# taz.de -- Neuer Roman von Marion Poschmann: Nichts ist dem Zufall überlassen | |
> Wo die Vernunft nicht weiterweiß, kann vielleicht der Mythos helfen. | |
> Schwindelerregend erzählt Marion Poschmann den Roman „Chor der Erinnyen“. | |
Bild: „… und der ganze Wald würde in Flammen aufgehen“, sinniert sie | |
Drei Frauen unternehmen eine Wanderung durch einen trockenheißen Wald. | |
Mathilda, Birte und Olivia kennen sich gut, mögen sich aber nicht. Neidisch | |
schaut jede von ihnen auf die Lebensentwürfe der anderen. Dabei sind sie | |
alle drei nicht glücklich, haben Probleme in der Ehe, mit der Tochter oder | |
im Beruf. Sie könnten sich gegenseitig unterstützen, stattdessen machen sie | |
sich das Leben zur Hölle. | |
Plötzlich überqueren zwei Männer eine Lichtung. Im Schnellschritt! Mathilda | |
denkt: „Managertypen, Firmeninhaber, Klimavernichter.“ Vielleicht ein | |
Vorurteil, auf jeden Fall ist sie von den durchtrainierten Körpern in | |
synthetischer Sportkleidung abgestoßen. Olivia aber nimmt die Kerle mit in | |
ihr Forsthaus. Was Birte freut und Mathilda wütend macht. Eigentlich wollte | |
sie das Wochenende nur mit Olivia verbringen. Schon Birte war | |
außerplanmäßig mitgekommen. | |
Deshalb trinkt Mathilda „mehr als sonst, weil sie den Männern nicht die | |
gesamten Vorräte überlassen wollte“. Sie nennt es eine „Vernichtung von | |
Rotwein aus dem Impuls der Missgunst“. Wie eine Furie, sagt der | |
frauenfeindliche Volksmund. Aber vielleicht ist Mathilda ja wirklich eine | |
Rachegöttin, und zwar nicht nur im übertragenen Sinn. | |
Eigentlich bevorzugt die Hauptfigur [1][in Marion Poschmanns Roman] „Chor | |
der Erinnyen“ einen gemäßigten, man könnte auch sagen: ziemlich rationalen | |
Umgang mit allem und jedem. Mathilda arbeitet als Mathe- und Musiklehrerin. | |
Zu den Schülerinnen und Schülern pflegt sie ein distanziertes Verhältnis. | |
Sie möchte vor allem eine Autorität sein, die Wissen vermittelt. Ihre hohen | |
Ansprüche gelten für Mathilda auch in anderen Lebensbereichen. Was nicht | |
eindeutig und exakt ist, versucht sie aus dem Alltag zu verbannen. | |
So hat sie auch seit Jahren nichts mehr in ihr Tagebuch geschrieben, weil | |
ihr die schwungvollen, zunehmend krakeligen Buchstaben auf Papier nicht | |
geheuer waren. „In ihren Fächern Musik und Mathematik musste sie nicht | |
sonderlich viel schreiben, die Korrekturen erforderten eher Ziffern und | |
Symbole als Worte und Sätze, und es gab richtige und falsche Lösungen, | |
keine Halbheiten, keine Ambivalenz.“ | |
## Unerwartete Störung | |
Mit genau solchen Ambivalenzen aber wird sich Mathilda nun häufiger | |
beschäftigen müssen. Es beginnt damit, dass ihr Ehemann plötzlich | |
verschwindet. Sie meint, mit ihm stets in „ruhiger, unauffälliger Harmonie“ | |
gelebt zu haben. Doch jetzt ist er ohne Erklärung „aus dem Haus gegangen | |
und nicht mehr zurückgekommen“. Die Verlassene redet sich tagelang ein, der | |
Gatte werde schon bald wieder auftauchen. | |
Doch nicht nur die eheliche Ordnung ist auf mysteriöse Weise gestört. | |
Birte, ihre hämische Kameradin aus Kindertagen, steht zunächst als Vision, | |
dann leibhaftig vor der Tür. | |
Seit Jahren haben sich die beiden nicht mehr gesehen, doch Mathilda scheint | |
den überraschenden Besuch vorausgeahnt zu haben. Sie hört nun immer | |
häufiger geisterhafte Stimmen, ist mit geflügelten Frauen aus mythischen | |
Erzählungen konfrontiert. Wird das Unvorstellbare real? Für eine | |
Verfechterin der reinen Vernunft ein existenzielles Problem. | |
Die Protagonistin könnte alte Gewissheiten aufgeben, dennoch versucht sie, | |
die unerklärbaren Phänomene zu rationalisieren: „Spukhafte Fernwirkung galt | |
in der Quantentheorie als gesichert. Zwei Teilchen kommunizierten über | |
ungeheuerliche Entfernungen miteinander und verhielten sich aufeinander | |
bezogen, obgleich so etwas räumlich nicht möglich war, es sei denn, man gab | |
das Lokalitätsprinzip vollständig auf. Mathilda hatte es augenblicklich | |
eingeleuchtet.“ | |
Marion Poschmann erzählt mit nahezu akademischer Akribie vom Unheimlichen. | |
Dabei ist ihr Roman als [2][eine Art „Dialektik der Aufklärung“] angelegt, | |
wie sie die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrem | |
gleichnamigen Werk beschrieben haben. Der Grundgedanke besteht darin, dass | |
im historischen Mythos auch eine Vernunfterzählung steckt und dass | |
radikalisierte Aufklärung wiederum mythische Muster und irrationale | |
Gesellschaftsverhältnisse hervorbringt. | |
Mathilda ist ein literarisches Musterbeispiel für dieses Denkmodell, nur | |
eben in anderer Reihenfolge: Gerade die strenge Rationalistin Mathilda wird | |
Kräfte entdecken, die nicht mit wissenschaftlichen Formeln zu erklären | |
sind. | |
Ihre Fähigkeiten, die Mathilda aus der Mythologie durchaus bekannt sind, | |
stellen nicht zuletzt wegen der zerstörerischen Machtfülle eine große | |
Gefahr dar, können aber auch Momente der Aufklärung enthalten. Die | |
ambitionierte Musiklehrerin jedenfalls begreift allmählich, was mit ihr | |
geschieht, und meint nun selbst beim Konzert ihrer Schülerinnen einen | |
„grauenerregenden Chor der Erinnyen“ zu hören. | |
## Der Tod ist allgegenwärtig | |
Die griechische Mythologie bleibt nicht nur kultureller Echoraum in | |
Poschmanns Prosa. Die Romanhandlung, die anfangs eher unspektakulär | |
verläuft, steuert auf eine sagenhafte Eskalation hinaus, auf ein tödliches | |
Inferno. Nichts ist dem Zufall überlassen in Poschmanns Prosa, selbst | |
kleinere Verweise fügen sich nun in den bildstarken Gesamttext. Olivia etwa | |
ist Expertin für Sepulkralkultur. Durchaus passend, wurden die Erinnyen in | |
der Antike nicht nur als Kämpferinnen der matriarchalen Macht verstanden, | |
sondern auch als Hüterinnen des Totenkults verehrt. | |
Der Tod ist ohnehin allgegenwärtig in diesem Buch. Die Menschen bedrohen | |
sich gegenseitig, doch vor allem scheint die Natur abzusterben. Der | |
menschengemachte Klimawandel, Ausdruck eines falschen Verständnisses von | |
herrschender Aufklärungs- und Ausbeutungslogik, wird schon bald zu einer | |
Katastrophe mythischen Ausmaßes führen. Soll Mathilda, gewissermaßen mit | |
der seherischen Kraft der spukhaften Fernwirkung, den Todesengel spielen? | |
„Ein Funke“, sinniert sie, „und der ganze Wald würde in Flammen aufgehen… | |
Vieles wird in Poschmanns Roman nur angedeutet, manches bleibt rätselhaft, | |
auch weil die Übergänge der verschiedenen Erzählebenen ansatzlos sind: | |
Visionen wechseln sich mit hyperpräzisen Naturschilderungen ab. Aus inneren | |
Monologen entwickeln sich mysteriöse Chorgesänge. | |
Der Roman, der sich gegen eine Tradition der extremen und | |
naturvernichtenden Vernunft wendet, spielt stilbewusst mit inhaltlichen | |
Unklarheiten: Welche Rolle nimmt überhaupt Mathildas Mutter in dem | |
familiären Beziehungsgeflecht ein? Was ist mit Schwester Roswita, die | |
zeitweilig nervenkrank in der Klinik liegt? Woher kommen Mathildas | |
Schuldgefühle, die sie seit Kindertagen plagen? | |
## Beschädigte Weiblichkeit | |
Dabei eint alle Charaktere ein stupendes Unvermögen, friedlich und | |
sinnerfüllt zusammenzuleben. Das betrifft in diesem Roman vor allem die | |
Frauenfiguren. So ist „Chor der Erinnyen“ auch als Parabel auf eine | |
Weiblichkeit zu lesen, die über Generationen hinweg beschädigt, nämlich von | |
männlicher Logik definiert wurde. In so gut wie allen Epochen der | |
Menschheit, in der Malerei und in der Literatur, in der Religion und in den | |
unterschiedlichsten gesellschaftlich-politischen Zusammenhängen wurde | |
Frauen nämlich unterstellt, sie seien entweder Heilige oder Megären, | |
Furien, Hysterikerinnen, Erinnyen. | |
In Poschmanns Roman übt Mathilda stellvertretend für die Verschmähten nun | |
Rache für diese Verleumdungen, indem sie ihr zugewiesenes Schicksal | |
annimmt: „Ja, sie strahlte etwas aus, was anderen unangenehm war. Man | |
begann sie zu meiden, ein Fluch lag auf ihr, eine Schuld, mit der niemand | |
in Berührung kommen wollte, eine Gewalt, die ihr Umfeld irritierte.“ | |
Poschmanns Bücher, die mit mythologischen Erzählungen, Erkenntnissen aus | |
der Klimaforschung, Analysen der Philosophie und Psychologie sowie | |
Erfahrungen mit fernen Kulturen gleichermaßen arbeiten, lassen sich | |
tatsächlich als Werke einer anderen, herrschaftsfreien Aufklärung lesen. | |
Im „Chor der Erinnyen“ bringt die [3][vielfach ausgezeichnete | |
Schriftstellerin zudem Gedanken und Stilformen ihrer Lyrik ein]. Zwischen | |
poetischer und prosaischer Sprache changierend, hat sie ein | |
schwindelerregendes Werk über fatale Vernunft, mythische Geschlechterrollen | |
und die tödliche Logik der Naturzerstörung geschrieben. | |
14 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
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