Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Roman „Avalon“ von Nell Zink: Wer heilt welche Wunden?
> Die Schriftstellerin Nell Zink parodiert in „Avalon“ ritterliche Romantik
> – und fragt, wie Liebe erzählbar bleibt, ohne die Kulturindustrie zu
> bedienen.
Bild: Findet sich hier das richtige Leben im falschen? Stadt Avalon auf Catalin…
Der Einstieg in diesen Roman ist betont rätselhaft. Da ist von
„Eisbergwolken“ und „Diamantfelsen“ die Rede. Ein „schmieriger Streif…
Mondlicht“ führt eine offenbar verletzte Erzählerin zur Insel Avalon.
Befinden wir uns in einer neoromantischen Sagenwelt? Schreibt Nell Zink nun
Genreliteratur? Gar einen Ritterroman? Offenbar handelt es sich um eine
kurze Traumsequenz, was die Szene zunächst nicht verständlicher macht.
Es tritt ein Mann mit dem durchschnittlichsten Namen der westlichen
Gegenwart auf, nämlich Peter, begleitet von einem Hund, der ausgerechnet
auf Rabelais hört. Das kann kein Zufall sein, immerhin hat der französische
Schriftsteller im 16. Jahrhundert mit „Gargantua und Pantagruel“ eine
berühmte Parodie auf den Ritterroman geschrieben.
Peter jedenfalls verhält sich alles andere als ritterlich. Gerade hat ihn
seine Verlobte verlassen, die nicht länger betrogen werden möchte, was zwar
laut Peter ein „Scheiß-Desaster“ ist, aber dann doch nicht so schlimm. Er
liebt ohnehin eine andere, und zwar die Erzählerin, die, kaum hat sie vom
unrühmlichen Ende der elterlich arrangierten Beziehung gehört, die „Sterne
in unbeschreiblichen Glück“ zerfließen lässt. Trotzdem fragt sie sich: „…
das irgendwie moralisch zu rechtfertigen?“
Damit sind auf anderthalb Seiten die wesentlichen Motive dieses
sensationell grotesken und zugleich äußerst ernsthaften Prosawerks
angerissen. Im nächsten Absatz wird kurz erklärt, dass es sich beim
titelgebenden Avalon nicht nur um die mythische Apfelinsel handelt, auf der
König Artus gebracht wurde, um seine Wunden zu heilen.
Als Projektionsfläche für Sehnsüchte dient auch ein gleichnamiges
„Touristenfallen-Kaff“ in Kalifornien, auf Santa Catalina Island südlich
von L. A. gelegen. Dorthin machten die Erzählerin und ihre Mutter am
Ostersonntag 2005 einen kleinen und kostspieligen Ausflug.
Die Tochter kann sich genau erinnern, weil sie kurze Zeit später von der
verantwortungslosen Erzeugerin verlassen wurde. Nachdem der Vater schon vor
Jahren verschwand, möchte sich auch die verbliebene Erziehungsberechtigte
nicht mehr ums Kind kümmern, sondern lieber in einem
tibetisch-buddhistischen Kloster leben.
Auch diese Passage endet mit einer für Zink nicht untypischen Pointe. Die
adult-infantile Sinnsucherin hinterließ der Tochter nicht viel, nur ein
paar Fantasy-Bücher mit Titeln wie „Flammender Kristall“ oder „Taran und
das Zauberschwert“.
Aus diesen Werken stammt wohl auch der Vorname der Erzählerin, der erst
spät im Text auftaucht: Bran heißt sie, angeblich eine Abkürzung für
Brandy. Dabei bezieht sich der keltische Name eher auf Branwen, einem
walisischen Aschenputtel, das vom königlichen Gatten zu niederen Arbeiten
in der Küche gezwungen wurde.
Bruder Bran, ein Riese, rettete die Schwester schließlich aus der
häuslichen Tyrannei. Diese Bezüge in die Sagenwelt sind in „Avalon“ nicht
ausformuliert, tauchen eher stichwortartig auf, bilden aber den kulturellen
Resonanzraum einer Geschichte, die auch als klassische Coming-of-Age-Story
zu lesen ist.
Bran wächst beim Ex ihrer Mutter auf, der zusammen mit dubiosen Verwandten
und kriminellen Freunden eine Baumschule betreibt. Das Kind wird – ähnlich
wie in der Legende – zur Arbeit gezwungen und erhält keinen Lohn für den
stundenlangen Ligusterschnitt. Ein Wunder, dass das Mädchen überhaupt die
Highschool besuchen darf. Die Schule ist der Schlüssel zur Befreiung, die
bei Nell Zink selbstverständlich nicht der große Bruder, sondern in letzter
Konsequenz die Frau selbst übernimmt.
Bran bleibt zwar Außenseiterin, weil sie oft dreckig in den Unterricht
kommt und sich im wahrsten Sinne des Wortes wie eine Lumpenproletarierin
kleidet, aber sie freundet sich schnell mit Leuten aus reicheren
Elternhäusern an, die ebenfalls auf Identitätssuche sind. Es findet sich
eine Clique, die für kurze Zeit eine fast klassenlose Utopie realisiert,
sich aber nach dem Ende der Schulzeit umgehend auflöst.
Bran muss zurück in die Baumschule; ihre Freunde beginnen mit dem Studium
oder dürfen sich wie Jay künstlerisch ausleben. Der Junge nimmt seit Jahren
Flamenco-Unterricht, was Bran allerdings nicht überzeugt: „Jay war ein
extrem unbegabter Tänzer. Es ist schwer, als Freundin zu beschreiben, wie
er beim Tanzen aussah. Stellen sie sich einen Pädophilen vor, der nebenbei
Hundewelpen umbringt, aber gewillt ist, gegen Sex mit Jay ein paar zu
verschonen.“
Der Humor ist wie immer in Zinks Romanen so überdreht rabiat, dass ein
sensibles Publikum pikiert sein könnte. Tatsächlich gehört der Gedanke,
diese Prosa könne durch ein Sensitivity Reading marktgerechter gemacht
werden, zum philosophisch-politischen Kern des vielschichtigen Textes.
Bran lernt über ihre Studienfreunde den neunmalklugen Peter kennen, der sie
nicht nur mit allerlei Theorien zum Faschismus in der zeitgenössischen
Kultur irritiert, sondern auch mit gedrechselten Merlin-Monologen zu
flirten versucht.
Bran durchschaut den Kerl und verliebt sich gerade deshalb. Nicht einmal
sein Mansplaining kann sie davon abhalten, mit ihm ins Bett zu gehen: „Ich
lass mich lieber von dir verarschen als von irgendeinem anderen Mann im
Universum“, sagt sie und beschreibt die folgende Szene mit großer
Lässigkeit: „Dann küssten wir uns richtig. Also ernsthaft, hardcore. Sogar
seine Hände gerieten halbwegs in meine Hose. Wir wälzten uns auf dem Bett
herum.“ Geht so zeitgemäße Romantik?
## Eine Form für die wüste Welt
Nell Zink belässt es nicht dabei, eine unritterliche Rittergeschichte zu
erzählen und zu fragen: Wer heilt hier welche Wunden? Bran entwickelt sich
schon bald von der amüsierten Empfängerin intellektueller Botschaften zu
einer Kreativen, die anders als Peter sich nicht in Zitaten ergeht, sondern
sich ans Werk macht, eine künstlerische Form für die wüste Welt zu finden:
Erst hilft sie noch ihren Freunden, ins Filmgeschäft einzusteigen, dann
arbeitet sie an eigenen Drehbüchern.
Es ist so rührend wie witzig, dass Peter ihr in dieser Lebensphase
ausgerechnet Adornos „[1][Minima Moralia]“ schenkt. Bran hat sich
tatsächlich vorgenommen, ein richtiges Leben im falschen zu erzählen. Dabei
merkt sie, dass aufklärerisch gemeinte Experimental-Dystopien oft am
Publikum vorbeigehen und dass die erfolgreichen Produktionen, zumeist
Fantasy- und Science-Fiction-Formate, menschenverachtende
Auslöschungsvisionen mit unsäglichem Herzschmerz kombinieren und diese
Mischung in banalster Sprache ausbreiten.
Was also tun? Lässt sich Romantik überhaupt erzählen, ohne die
schrecklichen Klischees der Kulturindustrie zu bedienen? Peter gibt wie
immer Ratschläge, auf die alle gewartet haben: „Lasst einen Film mit
faschistoider Bildästhetik auf Avalon spielen. Falls das nicht schon mal
gemacht worden ist.“
Nell Zink arbeitet mit schnellen Schnitten, springt von einer Erzählebene
zur nächsten. Mal berichtet Bran von bösen Motorrad-Rockern, die sie auf
Geheiß des Stiefvaters verfolgen, dann befinden wir uns schon wieder in
einem bizarren Drehbuch, in dem ein „Ritterfräulein einen verwaisten
Fischotter flaschenfüttern wollte“.
Während Bran also ihren Avalon-Film vorantreibt, steigert sich ihre
Sehnsucht, den geliebten Fremdgänger endlich wiederzusehen, ins schwer
Erträgliche. Als sie sich das erste Mal in einem Hotel getroffen hatten,
war schon die Fahrt im Aufzug ein Erlebnis: „Irgendwie fühlte ich mich
hochsensibilisiert, als hätte man mich über und über mit Tigerbalsam
eingerieben.“
Schließlich fährt Bran mit ihrem alten Mazda quer durch die USA, um den
Angebeteten auf einer Party in einem seltsam luxuriösen Ambiente zu
treffen. Der Gastgeber hat sich wie ihre Mutter dem Dalai Lama
verschrieben. Bran ist nur froh, dass Peter sich auch über den „Mussolini
des Himalaya“ lustig macht: „Hast du gehört, dass er gedroht hat, sich an
den Chinesen zu rächen, indem er sich nicht reinkarnieren lässt?“
Das findet der Hausherr nicht komisch, verlangt „Respekt“ für seinen Weg
ins ganz persönliche Avalon. Womit wir wieder bei den Debatten um das
richtige Leben im falschen wären, um den Kitsch, der sich mittlerweile in
fast jeder Diskussion um wertschätzende Sprache entfaltet.
Nell Zink hat in ihren Romanen immer wieder die Verlogenheiten
unterschiedlicher Milieus thematisiert: [2][„Der Mauerläufer“] zertrümmert
klassische Konzepte bürgerlicher Zweisamkeit, „Nikotin“ befasst sich mit
dem egoistischen Idealismus der amerikanischen Alternativszene, in
„Virginia“ werden oberflächliche Zuschreibungen bezüglich Race und Gender
zur gesellschaftlichen Farce, und in „[3][Das Hohe Lied“] geht es um das
Versagen der Demokraten gegen die trumpistischen Republikaner.
Was die meisten Figuren in diesen Texten eint, ist ein ständiges
Unterwegssein, das Überschreiten von geografischen, geistigen, ethnischen,
kulturellen und ökonomischen Grenzen. Kein Wunder, dass Zinks Heldinnen oft
in ein Auto steigen, um möglichst schnell wegzukommen.
Mit „Avalon“ geht die auf Englisch schreibende und in Brandenburg lebende
Autorin ein besonderes Wagnis ein, weil die romantische Liebe ein
vermintes Erzählgelände ist. Doch durch die ausgetüftelte
Romankonstruktion, die Widersprüche hervorhebt, statt sie einzuebnen, durch
Zinks untrügliches Gespür für das Groteske im alltäglichen Grauen und nicht
zuletzt durch ihre Kunst, komplizierte Kulturverwicklungen und noch
kompliziertere Beziehungswirrnisse auf wild-präzise Weise zu erzählen, hat
sie abermals ein so originelles wie originäres Werk verfasst.
Gegen Nell Zinks Romane wirkt ein Großteil der zeitgenössischen
US-Literatur erstaunlich bieder. Ohnehin sollten die lakonischen Sexszenen,
die Zink schreibt, zur Pflichtlektüre für alle werden, die meinen, über die
Liebe schreiben zu müssen. So wie „Avalon“ fortan als ästhetisches Richtm…
gelten darf, wenn es wieder mal um mythische Paradiese, Ritterlegenden
und die Hoffnung geht, den Apfel der Verführung als süßliche Schonkost
servieren zu können.
20 May 2023
## LINKS
[1] /Sammlung-von-Aphorismen/!5617095
[2] /Interview-mit-der-Autorin-Nell-Zink/!5322394
[3] /Neuer-Roman-von-Nell-Zink/!5707872
## AUTOREN
Carsten Otte
## TAGS
wochentaz
Romantik
Liebe
Kulturwirtschaft
Roman
Identität
Roman
deutsche Literatur
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Literatur
US-Literatur
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neuer Roman von Marion Poschmann: Nichts ist dem Zufall überlassen
Wo die Vernunft nicht weiterweiß, kann vielleicht der Mythos helfen.
Schwindelerregend erzählt Marion Poschmann den Roman „Chor der Erinnyen“.
Dichter Christoph Martin Wieland: Der Platzhirsch vor Goethe
Zu seinen Lebzeiten war der Schriftsteller Christoph Martin Wieland vorne
dran. Jan Philipp Reemtsma entdeckt in seiner Biografie einen
Sprachkünstler.
Neuer Roman von Jonathan Franzen: Gut sein geht halt nicht
„Die Korrekturen“ des Autors Jonathan Franzen wurde als Rückkehr des
Erzählens gefeiert. Sein Roman „Crossroads“ zeigt nun, er treibt es zu
weit.
Neuer Roman von Nell Zink: Flora und die Familienmuster
Nell Zink kann verdammt lustig schreiben und politisch scharf analysieren.
In „Das Hohe Lied“ zieht sie einen großen Bogen von Punk bis Trump.
Interview mit der Autorin Nell Zink: „Kuckucke sind kleine Luder“
Vögel, Naturschutz und Sex: alles drin in Nell Zinks spätem, aber
erfolgreichem Debüt „Der Mauerläufer“. Die US-Amerikanerin lebt und
schreibt in Bad Belzig.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.