# taz.de -- Neuer Roman von Nell Zink: Flora und die Familienmuster | |
> Nell Zink kann verdammt lustig schreiben und politisch scharf | |
> analysieren. In „Das Hohe Lied“ zieht sie einen großen Bogen von Punk bis | |
> Trump. | |
Bild: Studierte einst in Tübingen: Die US-Autorin Nell Zink | |
Produktive Verwirrung zu stiften gehört zu den stilistischen Mitteln der | |
[1][US-Autorin Nell Zink], und vielleicht ist auch deshalb auf der | |
deutschen Ausgabe ihres neuen Romans „Das Hohe Lied“ zu lesen: „Drei Frau… | |
gehen ihren Weg“. Das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Sogar durchaus | |
heikel ist dieser Reklamespruch, weil die Unterscheidung von Wahrheit und | |
Lüge in der Familie genauso wie auf der kulturellen und politischen Bühne | |
ein zentrales Thema des vielschichtigen Romans ist. | |
Am Anfang lernen wir zunächst einmal Joe Harris kennen, der unter dem | |
genetisch bedingten Williams-Syndrom leidet. Er muss mit einem Herzfehler | |
und einer gestörten räumlichen Wahrnehmung zurechtkommen, darf sich aber | |
auch über seine sprachliche und musikalische Hochbegabung freuen. | |
Anders als die auktoriale Erzählerin – und wir als lesendes Publikum – wei… | |
weder Joe noch sein Umfeld von der Krankheit, weil er nie auf das Syndrom | |
getestet wurde, was durchaus eine Herausforderung für seine Umgebung ist, | |
denn „sein Talent, andere zu irritieren, war schier grenzenlos. Er sagte | |
immer, was er dachte, und vertraute jedem, den er traf.“ | |
Dieser so sympathische wie seltsame Held verliert früh seine Mutter, wird | |
vom Vater, einem Professor für amerikanische Geschichte, liebevoll durch | |
die Schulzeit begleitet, und irgendwann in den späten 1980er Jahren lernt | |
er in New York die Punkerin Pam und den Möchtegern-Independent-Musikmanager | |
Daniel kennen. Zusammen gründen sie eine so mittelmäßige Band, dass bis auf | |
Joe, der immer optimistisch bleibt, alle wissen, dass dieses Trio wohl eher | |
nicht Musikgeschichte schreiben wird. | |
Pam arbeitet für eine EDV-Beratungsfirma, Daniel schlägt sich als | |
Korrekturleser einer großen Anwaltskanzlei durch. Job und Karriere sind den | |
beiden allerdings weniger wichtig als ihr Lebensgefühl, das von viel Sex, | |
allerlei Drogen, einer starken Dosis Selbstironie und dem Wunsch geprägt | |
ist, möglichst viel Zeit mit Kunst und Musik zu verbringen. | |
## Als stünde die Seele in Flammen | |
Da Marmalade Sky, so der Name ihrer skurrilen Band, wie erwartet nicht | |
reüssiert, wollen Pam und Daniel zumindest die Solokarriere ihres Freundes | |
unterstützen, dessen eigenwilliger Stil in den nun angehenden 1990er Jahren | |
ein wachsendes Publikum findet: „Joes Stimme und das Mahlen der | |
unzerstörbaren Aluminium-Lautsprechermembrane seiner wackeren Hartke-Box | |
durchschnitten den Dunst aus Feedback, der von dem gequälten Marshall | |
ausging, und er sang seine allerfeinsten Nonsense-Texte, als stünde seine | |
Seele in Flammen.“ | |
Man muss kein [2][Punkrock-Spezialist] sein, um eine Ahnung zu bekommen, | |
wie sich diese Musik anhören könnte. Joe jedenfalls entwickelt sich vom | |
Independent-Geheimtipp zum Mainstream-Megastar. | |
Nell Zink gelingt es im ersten Drittel ihres Romans, diese Heldenreise mit | |
einer so bissigen wie detailreichen Milieustudie des amerikanischen | |
Musikbusiness zu verknüpfen, dass zeitweilig völlig unklar ist, auf was die | |
kommenden zwei Drittel hinauslaufen werden. | |
## Charaktere aus der Indie-Szene | |
Im entscheidenden Moment aber verschiebt sich der Fokus der Erzählung. Die | |
mehr oder weniger dubiosen Charaktere aus der Indie-Szene treten in den | |
Hintergrund, die Familienbeziehungen der Hauptfiguren werden wichtiger, | |
auch weil Pam und Daniel ein Baby bekommen. | |
Die kleine Flora begeistert nicht nur Eltern und Großeltern, sondern eben | |
auch Joe, der neben seinen Studio-Sessions und Live-Konzerten den | |
Babysitter gibt: „Flora stand daneben, wenn er Psychotiker nach ihren | |
offenen Beinen fragte oder, im selben Tonfall unbeteiligter Faszination, | |
einen Eisverkäufer nach seinen Sorten. Er war blind für Klassenunterschiede | |
und kannte keine Grenzen, die er selbst hätte ziehen können.“ | |
Dieser Mann, der singend und dauerredend mit Flora durch die Straßen New | |
Yorks zieht, ist nicht nur für das Mädchen ein role model. Joe erfüllt | |
erzähltechnisch auch eine wichtige Spiegelfunktion für die Lebensläufe von | |
Pam und Daniel, die ihn um seine kreative Leichtigkeit beneiden. | |
## Der 11. September 2001 | |
Umso erstaunlicher, dass Nell Zink ihn mitten im Roman und ausgerechnet am | |
11. September 2001 an einer Überdosis Heroin sterben lässt. Dieser krasse | |
Wendepunkt ist aber keineswegs Effekthascherei, er verleiht dem folgenden | |
Geschehen vielmehr einen weiteren Subtext, der von der Schwierigkeit | |
handelt, bei der Wahrheit zu bleiben. | |
Pam und Daniel erzählen Flora nämlich nicht, wie Joe gestorben ist, so wie | |
sie ihrem Kind auch vorenthalten, dass die liebe Großmutter Ginger ihre | |
Tochter Pam einst verprügelt hat. | |
Flora wächst in behüteten und zugleich alternativen Familienverhältnissen | |
auf, die sie zeitlebens prägen werden. Sie ist nicht nur ein digital | |
native, sondern lebt auch ziemlich naiv in ihrer politischen Blase. Sie | |
will die Welt retten, arbeitet für den Wahlkampf der amerikanischen Grünen | |
und bemerkt zu spät, dass ihr Engagement dem politischen Feind hilft. | |
Genüsslich legt Nell Zink die Lebenslügen der geschilderten drei | |
Generationen offen, ohne dabei die Figuren grundlegend zu beschädigen. | |
## Einige gescheiterte Affären | |
Der bittere Witz insbesondere bei Flora ist, dass ihr Leben erst im Spiegel | |
sehr unterschiedlicher Männer interessant wird: Der sensible Joe bleibt | |
einerseits ein Maßstab, andererseits fühlt sie sich nach einigen | |
gescheiterten Affären zu einem schillernden Politikberater der Demokraten | |
hingezogen, der mit einem zynisch-realistischen Blick auf die politischen | |
Verhältnisse in den USA den Aufstieg Donald Trumps vorherzusagen weiß. | |
Ohnehin gibt sich Nell Zink in diesem Roman sehr viel Mühe, die Männer | |
doppelbödig und furios zu charakterisieren, während bei den Frauenfiguren | |
vor allem das (Nicht-)Zusammenspiel der Generationen herausgearbeitet wird. | |
## Ironie ist allgegenwärtig | |
Die zahlreichen Pointen in den temporeich erzählten Episoden, die | |
zwischenzeitlich sogar in Äthiopien spielen, verfolgen keinen Selbstzweck. | |
Die allgegenwärtige Ironie, vor allem in den rasanten Dialogen, zeigt auch | |
den grundlegenden Defätismus all jener, die sich für fortschrittlich | |
halten. | |
Daniel kann dem grünen Aktivismus seiner Tochter jedenfalls nur mit | |
politischem Galgenhumor begegnen, über den sich Flora wiederum amüsiert. | |
„Wenn sie ihrem Vater von den Grünen erzählte, reagierte er mit surrealen | |
Warnungen vor dem Tag des Zorns und den gut organisierten Milizen des | |
Zweiparteiensystems.“ | |
Aus dem Familienroman entwickelt sich ein politisches Drama. Trump, der | |
Mann, dem nichts heilig ist, wird nicht zuletzt mithilfe von Leuten | |
Präsident, die ständig das hohe Lied der Religion anstimmen. | |
## Trump als Wüterich | |
Pams Vater ist ein strenggläubiger Republikaner, und als er begreift, dass | |
Trump auch im höchsten Amt als rücksichtsloser Wüterich auftritt, zieht er | |
sich resigniert mit einer Eisenhower-Biografie zurück in den Lehnstuhl. | |
Wahrscheinlich wird er aber auch bei der nächsten Wahl für Trump stimmen. | |
Weil die alten Freund-Feind-Schemata eben doch wirkmächtiger sind als die | |
Einsicht, einen Fehler zu machen. | |
Pam und Daniel stehen den politischen Veränderungen nicht minder ratlos | |
gegenüber. Weil sie, wie so viele in ihrer Generation, die den angeblich so | |
coolen Eighties nachtrauern, sich vor allem ums eigene Wohlergehen kümmern. | |
So witzig Nell Zink zu erzählen vermag, so deutlich ihre politische | |
Analyse: Der Erfolg der Lügenpropaganda aus dem Weißen Haus ist auch mit | |
den starren Familienmustern und festgefügten gesellschaftlichen Rollen | |
jener US-Bürger zu erklären, die sich als Gegner des grassierenden | |
Trumpismus begreifen. | |
## Ihr bislang stärkster Roman | |
„Das Hohe Lied“ ist Nell Zinks bislang stärkster Roman, weil sie darin die | |
für sie so typische Crash-Ästhetik etwas zurücknimmt (zum Glück nicht zu | |
viel), weil sie den Humor auch für eine nuancenreiche Figurenzeichnung | |
nutzt und weil sie einmal gesetzte Themen auf erstaunlich vielen Ebenen | |
durchspielt. | |
Tobias Schnettler, der den Roman ins Deutsche übertragen hat, ist Zinks | |
dritter Übersetzer im Rowohlt Verlag. Gab es bei den vergangenen Büchern an | |
einigen Stellen minimale, für Zinks Sprachperfektion aber doch unschöne | |
Diskrepanzen zwischen der englischen und deutschen Version, scheint die | |
Zusammenarbeit nun zu gelingen. | |
Die Autorin, die im US-Staat Virginia aufgewachsen ist, lebt im | |
brandenburgischen Bad Belzig, spricht nicht nur gut Deutsch, sondern | |
[3][hat in Tübingen] auch über ein medienwissenschaftliches Thema | |
promoviert. Literatur aber verfasst sie in ihrer Muttersprache, in der sich | |
mit einer zärtlichen Radikalität austoben kann, die bis zuletzt für | |
Überraschungen sorgt: Die verdrehten Liebeslieder, die Joe einst sang, | |
klingen noch einmal an, wenn das Buch mit einem bewusst herzzerreißenden | |
Finale schließt. | |
15 Sep 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Interview-mit-der-Autorin-Nell-Zink/!5322394 | |
[2] /Neues-Album-des-Punkduos-No-Age/!5479978 | |
[3] http://xn--hat%20in%20Tbingen-nsb | |
## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
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