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# taz.de -- Parodie auf den Literaturbetrieb: Alle sitzen im Glashaus
> In dem Roman „Sister Europe“ von Nell Zink geht es um die Literaturszene
> und gegenwärtige Identitätsdebatten. Was alle Figuren eint, ist die
> Einsamkeit.
Bild: Nach dem Kulturevent zieht Nell Zinks Personal noch durchs nächtliche Be…
Die Ausgangslage wirkt nicht, als könnte sich Nells Zinks „Sister Europe“
zu einem der witzigsten Romane des Jahres entwickeln: Der Schriftsteller
Masud, der als „literarische Stimme der nomadischen Hirten Arabiens
gefeiert“ wird, soll mit einem nicht gerade hoch dotierten Preis
ausgezeichnet werden, der alle drei Jahre von „einem der liberalen Emirate“
verliehen wird. Aus reiseorganisatorischen Gründen findet die Ehrung in
Berlin statt, und zwar ausgerechnet im leicht angestaubten Hotel
InterConti.
Zu der Veranstaltung in einem Saal, der im „aufgesetzt dezenten
Nachkriegsstil“ gehalten ist, kommen Kulturfunktionäre, Politiker und
Diplomaten, aber auch Freunde und Bekannte des Autors, etwa der Kunst- und
Architekturkritiker Demian und seine 15-jährige trans Tochter Nicole.
Eingeladen ist auch Demians schöne, aber melancholische Freundin Livia
sowie ein in die Jahre gekommener Bonvivant namens Toto, der inzwischen auf
Tinder nach jungen Frauen sucht. Immer wieder erlebt er Überraschungen mit
seinen Dates, zuletzt mit Avianca, weil sie seine erste Bekanntschaft ist,
die „online ihr Alter hochgesetzt hatte“. Für Literatur interessiert sich
Avianca nicht, trotzdem oder gerade deshalb wird sie Toto zur
Preisverleihung begleiten.
## Skurrile Zufallsgemeinschaft
Auf diese skurrile Zufallsgemeinschaft trifft auch Klaus, ein Zivilbeamter
der Kriminalpolizei, der Kinderprostitution auf der Kurfürstenstraße
aufdecken will und sich zum irren Stalker entwickelt. Nicole hält er für
einen „minderjährigen Stricher in Highheels“, und kurioserweise sieht das
Radi, ein echter Prinz, zunächst ganz ähnlich, was ihn aber nicht weiter
stört: „Prostituierte waren eine schöne Ergänzung jeder Party, die diesen
Namen verdiente.“
Als Vertreter des Emirats soll er den Literaturpreis an Masud übergeben,
aber viel lieber möchte er auf eine Party von schwulen Freunden in
Friedrichshain gehen. Als er Nicole kennenlernt, beginnt Radi sofort zu
flirten, auch wenn er „einen gewissen Widerwillen gegenüber hübschen,
weißen Oberschichtjungs“ hegt, „die ihr Geschlecht wechselten“.
Nicole ist verwirrt vom royalen Lebemann, der das Misgendern nicht lassen
kann, dessen Fingernägel aber lackiert sind, während ihre „kurz und
ungepflegt“ aussehen. Zink spießt ein Rollenklischee nach dem anderen auf,
beschädigt ihre Figuren aber nie. Sympathisch werden die Strauchelnden,
wenn der emotionale Schutzpanzer bricht: „Aufs Neue brach ihre Hingabe an
ihre komplizierte Identität in sich zusammen und zerfiel zu hilfloser
Verliebtheit.“
Die Preisverleihung selbst wird schon bald zum kuriosen Nebenschauplatz.
Während Masud sich in seiner Rolle als Preisträger gefällt, warten alle
anderen aufs Essen: „Die Veranstaltung oszillierte zwischen hirntötender
Langeweile und kompletter Unverständlichkeit und ging einfach nicht zu
Ende.“ Am Buffet zeigt sich, dass der gepflegte Partytalk auch nicht viel
besser ist als die Lobesreden: „Der Ministerialrat schwärmte vom ganz
unbürokratischen Vergnügen, mit Goethe-Instituten in Diktaturen zu
operieren.“
## Bissig und genau beschrieben
Es ist schon erstaunlich, wie bissig und zugleich genau die
US-Schriftstellerin Nell Zink den hiesigen Kulturbetrieb beschreibt. Tobias
Schnettler weiß den schnoddrigen Ton der seit vielen Jahren [1][in
Brandenburg lebenden,] aber konsequent auf Englisch schreibenden Autorin in
seiner Übersetzung gut einzufangen; kleinere Ungenauigkeiten des Lektorats
fallen nicht ins Gewicht.
Zink verbindet die unterschiedlichen Typen, indem sie aus auktorialer
Perspektive erzählt, aber auch in die Charaktere hineinschlüpft, um deren
ungeschönte Sichtweise auszubreiten. So darf Straßenbulle Klaus, der vom
übrigen Personal regelmäßig als „pervers“ tituliert wird, auch über sei…
neuen Feinde herziehen: „Die Woken […] kontrollierten die Medien. Sie
konnten dafür sorgen, dass er von heute auf morgen seinen Job verlor.“ Aus
dem Buffo-Charakter wird damit ein Verschwörungsheini.
Was alle Figuren eint, ist ihre Einsamkeit. So bleiben sie zu ihrem eigenen
Erstaunen auch nach der Preisverleihung zusammen, ziehen durchs nächtliche
Berlin, spazieren am Rosa-Luxemburg-Denkmal im Tiergarten vorbei und hören
nicht mehr auf zu reden. Mal trennen sich kleinere Gruppen, besuchen einen
dreckigen Untergrund-Rave, finden aber auch im Fast-Food-Restaurant wieder
zusammen. Ein Hauch Fellini durchweht die Szenen, während die schnellen
Dialoge an amerikanische Screwball-Comedys erinnern, in der jedes
Fettnäpfchen zum unterhaltsamen Gesprächsfutter wird. Doch bietet „Sister
Europe“ nicht nur Slapstick und Satire, sondern auch literarische Tiefe.
Nell Zink setzt mit ihrem sechsten Roman konsequent ihr Werk fort. Sie
erzählt von Hoch- und Indie-Kultur, verspottet und feiert sowohl
althergebrachte als auch alternative Lebensformen, um schließlich mit
unterhaltsamer Detailfülle politische Verwerfungen in den Blick zu nehmen.
[2][„Das Hohe Lied“,] Zinks 500-Seiten-Epos, erzählt von einer Punk-Band,
dem Terroranschlag vom 11. September 2001 und brüchigen
Familienkonstellationen, um in einem historischen Bogen eine polarisierte
US-Gesellschaft, die Schwäche der demokratischen Klasse und den ersten
Wahlkampf Donald Trumps zu beschreiben.
## Funkelnde Literatur
Nicht selten bezieht sich die in Tübingen promovierte
Medienwissenschaftlerin in ihren Büchern auf klassische Topoi und Themen.
In ihrem [3][Roman „Avalon“] verbindet sie mittelalterliche Ritterromantik
mit Adorno-Lektüren. Sie parodiert eingängige Identitätsmuster, wie etwa im
Roman „Virginia“, der von den fundamentalen Widersprüchen bei Fragen der
Hautfrage und sozialen Herkunft handelt.
Zinks funkelnde Literatur kommt weder dogmatisch noch belehrend daher; sie
ist eine politische Humoristin, die Figuren mit oft antagonistischen
Positionen aufeinanderprallen lässt und ihnen nicht zuletzt aus Gründen der
erzählerischen Fallhöhe emotionale Irrfahrten zumutet. Wie kaum eine andere
Schriftstellerin kann sie Peinlichkeiten beim Sex schildern, ohne dabei
einen peinlichen Satz zu schreiben.
In „Sister Europe“ öffnet sich ein weiterer kultureller Echoraum: Nach
antiker Mythologie war Europa eine phönizische Königstochter, in die sich
Zeus verliebte. Der Göttervater verwandelte sich in einen Stier, um die
Angebetete auf dem Rücken über das Meer nach Kreta zu (ent)führen. Dort
nahm Zeus seine ursprüngliche Gestalt wieder an und zeugte mit ihr drei
Kinder. In der neuen Heimat wird Europa zudem prophezeit, dass dieser
Erdteil nach ihr benannt werde.
Es gibt bei Homer, Ovid, Horaz und vor allem später bei Nonnos von
Panopolis unterschiedliche Varianten der Europa-Legende, was zu
verschiedenen Lesarten und Interpretationen geführt hat. Die antiken
Autoren schildern Zeus nicht durchweg als Lüstling und Frauenräuber; erst
bei Nonnos im 5. Jahrhundert wird er als Ehebrecher beschrieben, dem die
Rache der Gattin gewiss ist.
## Fragile Geschlechterbeziehungen
Bei Nell Zink ist es nun ein arabischer Prinz, der ein Berliner
Trans-Mädchen verführen möchte, allerdings scheitert und sich mit einer
europäischen Grande Dame einlässt, ganz ohne Verwandlungskünste und
Entführungsgewalt. Livia wohnt in einem düster-hellen Glashaus, das sie an
die familiäre NS-Vergangenheit erinnern lässt. Im Glashaus aber sitzen fast
alle Figuren in diesem Roman, doch statt mit Steinen zu schmeißen, machen
sie sich auf den Weg, ändern sich und ihr Selbstbild, nicht zuletzt in den
fragilen Geschlechterbeziehungen.
So lässt sich Zinks „Sister Europe“ neben dem aberwitzigen
Identitätstheater auch als literarische Flaschenpost begreifen, die an den
großen Bruder über dem Atlantik geschickt wird. Seht her, meine
amerikanischen Landsleute, scheint Zink mit ihrem Roman zu sagen, im alten
Europa geht vieles drunter und drüber, gibt es überspannte Debatten und
bornierte Preisverleihungen, aber auch das Bemühen, Kulturkämpfe nicht mit
moralinsauren Regeln und autoritären Maßgaben, sondern mit Argumenten,
einem Augenzwinkern und einer Portion Gelassenheit zu überwinden.
Sprachliche Empfindlichkeiten ignoriert Nell Zink weitgehend. Manche
Figurenrede ist dermaßen provokativ, dass es bei der Sensitivity-Kontrolle
vermutlich strenge Ermahnungen gab. Das Ergebnis ist eine nachtschöne und
geniale Persiflage auf den deutschen Literaturbetrieb, ein Abgesang auf
europäische Differenzdiskurse und ein fast tänzerisches Kreisen um die
Frage, wie man jenseits von kulturellen und sozialen Grenzen doch noch
zusammenkommt.
18 May 2025
## LINKS
[1] /Interview-mit-der-Autorin-Nell-Zink/!5322394
[2] /Neuer-Roman-von-Nell-Zink/!5707872
[3] /Roman-Avalon-von-Nell-Zink/!5933030
## AUTOREN
Carsten Otte
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schreibt in Bad Belzig.
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