# taz.de -- Interview mit der Autorin Nell Zink: „Kuckucke sind kleine Luder�… | |
> Vögel, Naturschutz und Sex: alles drin in Nell Zinks spätem, aber | |
> erfolgreichem Debüt „Der Mauerläufer“. Die US-Amerikanerin lebt und | |
> schreibt in Bad Belzig. | |
Bild: „Ich bin wahrscheinlich die spießigste Person in Belzig“: die Schrif… | |
taz: Frau Zink, woran merkt man, dass man berühmt ist? | |
Nell Zink: Ich bekomme Post, da steht drauf: Nell Zink, Bad Belzig. Mehr | |
nicht. Und es kommt an. | |
Und was macht das Berühmtsein mit Ihnen? | |
Man könnte sagen: Nichts. Ich habe mich mein Leben lang gefragt, was ich | |
mache, wenn ich Geld wie Heu habe. Jetzt weiß ich es: das gleiche wie | |
immer, nur etwas entspannter. Wenn jemand Scheiße baut bei einem | |
Literaturfestival und meine Übernachtung im Four Seasons Downtown Miami | |
nicht bezahlt hat, dann zahle ich’s halt selbst. Und dieser Beitrag fällt | |
nicht ins Gewicht, das ist genial. | |
Für Ihr aktuelles Buch sollen Sie einen Vorschuss von mehr als 400.000 | |
Dollar bekommen haben. | |
Das stimmt. | |
Sie könnten sich jetzt eine schicke Eigentumswohnung in Berlin kaufen. | |
Nein danke. Dann hätte ich es so weit nach Bitterfeld und Dessau. Und da | |
ist die Natur so viel schöner. | |
[1][Ihr erstes Buch, „Der Mauerläufer“, ist im Frühjahr auf Deutsch | |
erschienen.] Es spielt auch in Berlin und Brandenburg. Tiff, die | |
Protagonistin, liebt Vögel und hasst Berlin. Sie wohl auch? | |
Die übertreibt ein bisschen. Aber ja, Berlin ist für mich ein bisschen wie | |
ein Moloch, ich werde dort nach einer Weile aggressiv. Wenn ich da | |
unterwegs bin mit dem Rad, es ist ja keine Traumstadt für Radfahrer, dann | |
fang ich irgendwann an, auf alles zu schimpfen. | |
Hier in Bad Belzig gibt es nicht so viel zu schimpfen? | |
Worauf sollte ich hier schimpfen? | |
Keine Ahnung. Auf die provinziellen Spießer? | |
Ich bin wahrscheinlich die spießigste Person in Belzig. Zumindest was die | |
Lärmempfindlichkeit betrifft. Wenn die hier drüben im Café nach zehn noch | |
laut reden, denk ich: „Schlecht, ganz schlecht.“ Außerdem bin ich | |
hierhergezogen, weil ein Freund mir sagt: „Da fällst du nicht auf. Da gibt | |
es Leute, die sind noch viel verrückter als du.“ Hier gibt es ja das ZEGG – | |
Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung. Eine Art Kommune, die | |
leben nur für Rhythmentanz und tantrische Ölrituale. | |
Sie dagegen leben hier allein. Ist das eine bewusste Entscheidung? | |
Ja. Aus dem Erfahrungsschatz. Sich jeden Tag, jede Nacht im Detail mit | |
jemandem auseinanderzusetzen, das hemmt die Kreativität und vor allem die | |
Langeweile. Man muss sich langweilen, um dazu getrieben zu werden, etwas | |
zu machen. | |
Deshalb auch Bad Belzig, als Ort der Langeweile? | |
Klar. Damit hier etwas passiert, muss ich es selbst machen. In großen | |
Städten lebt man wie auf dem Laufband. | |
Haben Sie uns die Zeitschrift hier auf dem Tisch extra hingelegt? | |
Die Vögel? Nee. Die kam heute mit der Post. | |
Das ist eher die Laienzeitschrift, oder? | |
Absolut. Es gibt noch Der Falke, die krieg ich auch. Schaut mal, ein | |
[2][Braunkehlchen], ist das nicht lieb … | |
Wie sind Sie denn zur Vogelliebhaberin geworden? | |
Ich wurde bekehrt. Ich hatte einen Freund, einen Ornithologen, der hat mir | |
erzählt von den Abenteuern der Vögel. Das kann man festmachen an einer | |
Anekdote über [3][Knäkenten] auf dem Mittelmeer, die kamen aus der | |
Sahelzone nach Europa und wollten in die wertvollen Feuchtgebiete. An der | |
Adriaküste stand aber damals alle hundert Meter ein Typ mit ’ner | |
Schrotflinte. Und dann sitzen die Knäkenten auf dem Meer fest, nichts zu | |
trinken und nichts zu essen, obwohl sie direkt vor sich perfekte Rastplätze | |
haben. Diese Geschichte hat in mir einen Schalter umgelegt. | |
Ornithologie gilt eher als ein Hobby für Nerds, die lateinische Namen | |
runterrattern. Bei Ihnen klingt es nach einer fast zärtlichen Beziehung. | |
Wenn man sich für Vögel begeistert, ist das wie Popmusik oder Kunst. Je | |
mehr man über sie liest, desto faszinierender sind sie: Manche sind so | |
richtige kleine Spießbürger. Der Zaunkönig zum Beispiel. Das Männchen ist | |
wie so ein Schwabe: „Schaffe, schaffe, Häusle baue und dann nach dem Mädle | |
schaue.“ Bei den Sperlingen ist es eher wie in einem großen besetzten Haus, | |
da gibt es schon Pärchen, aber, na ja … Die Meisen sind auch alles andere | |
als treu. Und die Kuckucke, sie sind absolut schamlos, völlig | |
durchtriebene kleine Luder, legen ihre Eier in irgendein Nest und | |
verbringen dann den Rest des Jahres in Afrika. Und die Segler: Die | |
schlüpfen, fliegen los, schlafen am Himmel, haben Sex am Himmel. Drei Jahre | |
gehen die niemals auf den Boden. Die haben nicht mal richtige Beine, nur so | |
absurde kleine Beinchen. | |
Im Literaturbetrieb ist es so, dass sich Bücher mit einer guten Story | |
verkaufen. In gewisser Weise ist das ja auch Teil Ihrer Geschichte. Sie | |
fallen raus aus dem üblichen Reigen der AutorInnen: erstes Buch mit 50, | |
lebt irgendwo im Nirgendwo in einem anderen Land, die Vogelliebhaberei. Wie | |
nehmen Sie selbst diese Inszenierung Ihrer Lebensumstände wahr? | |
Ich bin promovierte Medienwissenschaftlerin, ich weiß, dass das notwendig | |
ist. Hinter einem Buch muss eine Autorin stecken, und ohne die Medien ist | |
man aufgeschmissen. Es gibt sehr, sehr viele Bücher, und man muss mit einer | |
Story kommen. Mir war von Anfang an bewusst, dass ich eine gute Story habe, | |
die kommt mir manchmal selber crazy vor. Ich habe wirklich jahrzehntelang | |
ganze Romane nur für meine Freunde geschrieben. | |
Und Sie dachten nie ans Veröffentlichen? | |
Ich wusste nicht, dass ich gut genug für den Markt schreibe. Ich habe vor | |
allem vom Übersetzen gelebt, von 1.000 Euro im Monat. Das ist die | |
kleinbürgerliche Askese. Dass man in Armut lebt, als Promovierte und | |
nebenbei seine Kunst macht. Das ist ein Risiko, aber bei mir hat es sich | |
gelohnt. Ich verdiene jetzt Geld mit der Kunst. | |
War das der Plan? | |
Nein. Ich habe nicht geahnt, dass es für mich eine Nische in der | |
Marktwirtschaft gibt. | |
Haben Sie es denn früher probiert? | |
Man muss jemanden kennen, und ich kannte niemanden. | |
Bis der Beststellerautor Jonathan Franzen kam. | |
Ich habe ihm einen Leserbrief geschrieben und wollte ihn dazu bringen, für | |
den New Yorker oder National Geographic etwas über einen befreundeten | |
Ornithologen zu schreiben, [4][was er dann auch gemacht hat]. Er mochte | |
meinen Schreibstil, also habe ich ein Buch für ihn geschrieben, das dann | |
veröffentlicht wurde. Jetzt schreibe ich an meinem dritten Buch. Das sind | |
Sachen, die man nicht erfinden kann. Ich hatte einfach Glück. | |
In den Rezensionen zum „Mauerläufer“ war von einer speziellen | |
literarischen Stimme die Rede. Der Nachfolger, „Mislaid“, ist in den USA | |
bereits erschienen und hat einen völlig anderen Stil. | |
Den „Mauerläufer“ habe ich wirklich nur für Jonathan Franzen geschrieben, | |
als von einer Veröffentlichung noch nicht die Rede war. Das Buch ist also | |
sehr persönlich, und mir war nicht klar, dass ein Verlag es einfach | |
übernehmen und drucken würde, fast unredigiert. Ich habe mich dann ein | |
bisschen geschämt und wollte nicht sagen, welche Teile ich gerne rausnehmen | |
würde, weil sie zu persönlich waren. Es hat zwar nichts Autobiografisches, | |
ist aber ein sehr intimes Buch. | |
Das nächste Buch sind Sie kommerzieller angegangen? | |
Franzen hat versucht, meine früheren Schriften bei einem Verlag | |
unterzubringen, und ist abgewiesen worden. Da dachte ich: Wie kann ich ihm | |
sein Leben einfacher machen, wenn er mir schon den Gefallen tut und als | |
mein Agent auftritt. Und ich dachte, ich könnte etwas schreiben, das ein | |
bisschen mehr high concept ist. Wo man in einem Satz sagen kann, wieso | |
gerade dieses Buch so totally sexy ist für den Markt. Und ich dachte, okay: | |
Eine Lesbe heiratet einen Schwulen, sie ist weiß und gibt sich als Schwarze | |
aus. So mach ich’s. Aber trotz des kommerziellen Hintergedankens bin ich | |
so gewissenhaft wie immer an [5][„Mislaid“] rangegangen. | |
Das heißt … | |
Ich will Geschichten erzählen, nicht so einen völlig undurchdringlichen | |
Schmarrn. Manche schreiben ja mit Absicht verwirrend und schwierig und | |
abweisend, so was kommt mir nicht in den Sinn. Ich habe immer für meine | |
Freunde geschrieben, nicht für meine Feinde. Deine Leser sind nicht deine | |
Gefangenen; wenn sie es nicht unterhaltsam finden, legen sie das Buch | |
einfach weg. | |
Ist es ein Zerrbild, das das deutsche Feuilleton gezeichnet hat? Dass Ihre | |
Literatur so sexzentriert ist? „Analverkehr auf Seite dreizehn!“, schrieb | |
ein Rezensent über den „Mauerläufer“. | |
In der amerikanischen Literatur hast du normalerweise Analsex auf Seite | |
vier. Ich habe das Buch ja für Franzen geschrieben. Und in seinen Romanen | |
merkt man, da gibt es Intimität durch konventionellen Geschlechtsverkehr, | |
aber noch einen Schritt intimer ist der Analverkehr, und zwar eindeutig aus | |
männlicher Perspektive. Franzen hat sich noch nie überlegt, wie das für die | |
Frau eigentlich ist. Ich habe diese Szene also geschrieben, um ihn eines | |
Besseren zu belehren. Es wird ja gerne um den heißen Brei geredet, dass es | |
für Frauen gewöhnungsbedürftig oder schmerzhaft sei oder unbequem, aber | |
wonach es sich eigentlich anfühlt, das zu schreiben ist politisch offenbar | |
doch nicht vertretbar. | |
Ihre Protagonistin scheint recht getrieben von der eigenen Sexualität. Ist | |
das Ihre eigene Erfahrung? | |
Dieser gnadenlose Sextrieb, dem die Tiff ausgesetzt ist, ist eher etwas von | |
jüngeren Frauen. Dieses Problem habe ich in dieser Form nicht mehr. Das | |
flaut mit den Jahren ab, und das ist gar nicht so schlimm. | |
Schafft das Freiraum? | |
Absolut. Für die Kunst und auch für Beziehungen. Wenn man jung ist, wird | |
man von den Männern gejagt. Dann kommt eine Phase, wo man sich Männer sucht | |
und die vielleicht auch kriegt. Ich war damit einigermaßen erfolgreich, | |
aber wenn mal einer Nein gesagt hat, habe ich sofort das Interesse | |
verloren, weil ich den Trieb hatte, mit jemandem zusammen zu sein. Wenn man | |
dann älter wird, kann man einfach mehr Geduld aufbringen. Hier noch mal | |
eine Schraube zu drehen oder da, sein Meisterstück abzuliefern. Die | |
Beziehungen werden darum mit der Zeit immer besser. | |
Wenn Frauen erst dann mehr Freiraum haben, wenn sie aus dem Familiendruck | |
raus sind, müsste es doch viel mehr geben, die erst mit 45 plus große | |
Bücher schreiben. Furore machen aber junge Autorinnen. | |
Viele Frauen schreiben Bücher, aber viele brauchen auch keine Story. Die | |
Story ist, dass sie so jung sind. Das ist wie damals, als Bob Dylan | |
auserkoren wurde, die Stimme der Folk Music in den USA zu sein. Die hatten | |
diese ganzen hässlichen abgehalfterten Folksänger, kein Teenie hätte für | |
die geschwärmt. Da haben sie gesagt: Den wollen wir haben, der ist jung! | |
Wenn Sie rekapitulieren, was Sie mit Anfang 20 geschrieben haben, hätten | |
Sie das gerne veröffentlicht gesehen? | |
Es waren Jugendsünden – aber verdammt gut geschriebene. Wahrscheinlich | |
hätte ich sie irgendwo unterbringen können und mein Leben wäre sehr viel | |
einfacher gewesen. Dafür bringe ich jetzt natürlich auch Lebenserfahrung | |
und Bildung mit, die andere nicht haben. In den USA habe ich damit noch | |
einen größeren Vorteil, weil da kein Mensch studiert. Die machen einen | |
Bachelor in creative writing und fangen an, Romane zu schreiben. Und | |
tagsüber arbeiten sie als Praktikanten bei einem Medienunternehmen. Die | |
haben nichts erlebt und haben als Input nur die Oberfläche der | |
Gesellschaft. Wenn das meine Konkurrenz ist, sieht es für mich ganz gut | |
aus. | |
Also ist doch alles optimal gelaufen mit dem späten Erfolg. | |
Na ja. Immer wenn ich fotografiert werden soll, denke ich, ich wäre auch | |
gerne noch jung. Altern ist schon hart. Ich sage nicht, dass ich scheiße | |
aussehe, weil ich 52 bin. Aber ich kann mit großer Sicherheit sagen, dass | |
ich mit 25 besser ausgesehen habe. Wenn ich damals schon meine Bücher | |
veröffentlicht hätte, würden die sich bestimmt noch besser verkaufen. | |
Kürzlich waren Sie leicht bekleidet in einer deutschen Wochenzeitung | |
abgebildet. | |
Dass ich in der Zeit in Unterwäsche abgebildet war, das war eine gezielte | |
geschmackliche Verfehlung. Ich war eigentlich dabei, mir das Kleid | |
zuzuknöpfen, aber der Fotograf meinte, lass es einfach auf. Ich kann als | |
Feministin nicht wirklich dahinterstehen, aber die Zeit ist ja auch kein | |
feministisches Blatt. Ich dachte, vielleicht kann ich die Leser mit Haut | |
ermuntern, etwas über mich zu lesen. Dass es auf den Titel des Zeit | |
Magazins kommen sollte, konnte ich da noch nicht wissen. Auf der Buchmesse | |
in Leipzig wurde ich ein bisschen schief angeguckt, vor allem von Frauen. | |
Auch hier in Bad Belzig? | |
Ich bin am Morgen gleich rüber zum Kiosk und habe alle drei Exemplare der | |
Zeit gekauft, damit war die Sache gebongt. | |
3 Aug 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.rowohlt.de/hardcover/nell-zink-der-mauerlaeufer.html | |
[2] https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/aktionen-und-projekte/vogel-des-jahr… | |
[3] http://www.luontoportti.com/suomi/de/linnut/knakente | |
[4] http://ngm.nationalgeographic.com/2013/07/songbird-migration/franzen-text | |
[5] https://www.harpercollins.com/9780062364777/mislaid | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
Claudius Prößer | |
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