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# taz.de -- Roman von Johan Harstad: Bericht aus dem Wolkenkuckucksheim
> Krieg, Freundschaft, Kunst und Migration in die USA: „Max, Mischa und die
> Tet-Offensive“ ist eine glaubwürdige Erzählung über das Leben.
Bild: Harstad zeichnet in seinem Roman den Weg einer norwegischen Familie an di…
Seine Kindheit erlebt Max Hansen in Forus, einem Stadtteil von Stavanger in
Norwegen. Er ist die Hauptfigur im jüngsten Roman von Johan Harstad. Den
Familien in der Nachbarschaft beschert das aus den Bohrinseln sprudelnde
Erdöl in den 1980er Jahren neuen Wohlstand. Ausdauernd verbringen Max und
seine Freunde die Nachmittage mit Kriegsspielen. Heimlich schauen sie
Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“, und der norwegische Wald verwandelt
sich für die Jungen in den vietnamesischen Dschungel, wo US-Truppen von der
Tet-Offensive des kommunistischen Vietcongs überrascht werden.
Der 1979 in Stavanger geborene Schriftsteller zeichnet in „Max, Mischa und
die Tet-Offensive“ aus Max Perspektive den Weg einer norwegischen Familie
an die Ostküste der USA nach. „Unsere Leben waren in keiner Weise
spektakulär oder bedeutungsvoll. Sind es nie gewesen. Aber es waren unsere
Leben, sie waren miteinander verwoben, und ich habe solche Angst, sie zu
verlieren.“ Rückblickend lässt Harstad seine Romanfigur, den zum
Theaterregisseur gereiften Max Hansen, die Beziehung zu den Menschen, die
ihn in den USA begleitet haben, resümieren.
Dabei inszeniert der norwegische Autor irritierend biografisch die
Jugenderinnerungen seines Erzählers. Verstummt erlebt Max nach der
Auswanderung der Familie die ersten Monate in Garden City, einem
bürgerliche Vorort auf Long Island. Sein Vater, der als Pilot nun für
American Airlines fliegt, kommt und geht. Mit der Mutter, die selbst mit
der neuen Umgebung fremdelt, verbindet den Jungen ein enges
Vertrauensverhältnis, während Ulrikke, die ältere Schwester, abwesend und
unsichtbar bleibt. Wenig erinnert nur noch an das frühere, dissidente Leben
der Eltern als überzeugte Maoisten und engagierte Gegner des Vietnamkriegs.
Harstad ist ein aufmerksamer Beobachter und ein gekonnter Erzähler. Seine
Sätze, die zuweilen eine halbe Buchseite füllen, erzeugen eine atemlose
Dringlichkeit für die Ereignisse und Gedanken, die sie festzuhalten suchen.
Im Highschool-Alltag der beschaulichen Gartenstadt trifft Max bald auf
Mordecai, einen charismatischen Individualisten, mit dem er die Faszination
für Coppolas Darstellung des Vietnamkriegs teilen kann.
## Teenager-Leben in der Warteschleife
Die Freundschaft mit dem Gleichaltrigen erleichtert dem heimatlosen Jungen
aus Forus die Ankunft an dem verstörenden Ort. Angeleitet von Herrn
Wohlman, dem Leiter der Schul-AG, entdecken sie gemeinsam die Leidenschaft
für das Theater, das zu ihrer beider Berufung werden soll.
Noch bedeutsamer allerdings wird für Max 1993 die Begegnung mit der acht
Jahre älteren Mischa. Die kanadische Malerin, die ihn an Shelley Duvall,
die Darstellerin aus Kubricks Spielfilm „Shining“ erinnert, öffnet dem
Sechzehnjährigen eine neue Welt und die Tür Richtung New York. (Ein Porträt
der Schauspielerin ziert folgerichtig das vom Autor gestaltete Cover des
Romans.)
In der zurückhaltenden Darstellung dieser scheinbar gleichförmig
verlaufenden, heißen Sommerferien auf Fire Island gelingt es Harstad, die
innere Verwandlung seines Protagonisten lebhaft spürbar zu machen. Die
Freude über die sich anbahnende zarte Liebesbeziehung mischt sich bei Max
mit der Erregung darüber, dass das Teenager-Leben in der Warteschleife nun
endlich ein Ende hat.
Parallel, aber nicht chronologisch und im Ton sehr viel gedämpfter erzählt
der Roman die Geschichte Owens – des unbekannten Onkels von Max in New
York. Dieser war Ende der 1960er Jahre von Norwegen in die USA
aufgebrochen, um als Jazzmusiker in New York zu leben. Mit der Aussicht auf
Einbürgerung hatte er sich 1970 leichtfertig naiv als Freiwilliger für den
Vietnamkrieg gemeldet. „Er war an Orten, an denen er nicht hätte sein
sollen.“
## Ein lustvolles literarisches Spiel
Während Mischa als konzeptuelle Malerin bald international reüssiert und
Max nach seiner Ausbildung scheinbar ohne große Anstrengung zu einem viel
diskutierten Theaterregisseur an den Off-Bühnen der Stadt wird, erreichte
Owen sein Ziel als Pianist nur mit Abstrichen über Umwege und abseits des
Publikums. Völlig zurückgezogen lebt er seit Jahren im heruntergekommenen
Apthorb Building am Broadway, wenige Blöcke vom Central Park entfernt.
Zusammen mit Mascha und Mordecai macht Max den verschollenen Onkel und
Vietnamveteranen eines Tages dort ausfindig. Zwischen ihnen entsteht
Freundschaft und Vertrauen.
Max und Mascha ziehen schließlich bei ihm ein. So wird das 300 Quadratmeter
großes Apartment mit der für Manhattan lächerlich günstigen Miete für seine
drei Bewohner zum zentralen Rückzugsort und Hauptschauplatz im zweiten
Drittel des Künstlerepos – ein kreatives „Wolkenkuckucksheim“. Eine
Unterüberschrift in Klammern benennt es.
Die Geschichte und den Alltag seiner New Yorker Protagonisten, zu denen es
keinen direkten autobiografischen Hintergrund zu geben scheint, schrieb
Harstad innerhalb von sieben Jahren, unterstützt durch ausufernde
Recherchen über historische Ereignisse, reale Orte und lebende
Persönlichkeiten. Von Hinweisen über Galerien und den Kunstmarkt, den
Vietnamkrieg, die Finanzkrise, den Bürgerkrieg in El Salvador, den 11.
September, den Klimawandel bis zur Auswanderungsgeschichte Norwegens –
alles ist in dieser Erzählung enthalten.
Es ist ein lustvolles literarisches Spiel, das aus dem Vollen schöpft, mit
Lebensläufen und Jahreszahlen jongliert. Darin vermischen sich Faktisches
und Fiktionales untrennbar.
## Harstad erstreckt die Erzählung über 1.248 Seiten
Akribisch verfolgt die Romanfigur Max die künstlerische Entwicklung seiner
Freundin in der New Yorker Kunstszene, kommentiert ihre Ausstellungen und
Werkzyklen. Der Katalogtext einer Mischa-Grey-Retrospektive ist im Roman
dokumentiert. Anlässlich der norwegischen Erstausgabe von „Max, Mischa &
die Tet-Offensive“ veröffentlichte der Schriftsteller 2015 im Umkehrschluss
eine limitierte Edition jenes fiktiven Ausstellungskatalogs mit zahlreichen
Abbildungen.
Doch so wie im Buch Immobilienspekulationen auch vor dem Apthorp Building
2006 nicht haltmachen, gerät im dritten Teil der Megaerzählung die
symbiotische Langzeitbeziehung von Max und Mischa in gefährliche
Schieflage. Zum ersten Mal erlebt Max schmerzhaft deutlich Verlust und
Trauer. Nach Owens Tod stellt er fest, „dass das Schlimmste am
Erwachsenwerden die Fähigkeit ist, voll und ganz einzusehen, was weg
beinhaltet. Die Konsequenzen. Kommt nie mehr wieder. Das Wort nie zu
begreifen.“
Über 1.248 Seiten spannt der in Oslo lebende Autor einen großen Bogen und
gewährt mit seinem Buch, das facettenreich Freundschaft, künstlerischer
Freiheit, Hoffnung und Trauer behandelt, den Blick auf das Leben selbst.
Harstad schließt den Kreis seiner Erzählung.
Wie zu Beginn begleitet der Roman den 35-jährigen Theaterregisseur, der mit
seinem sperrigen Stück über den Kapitalismus weiter quer durch die USA
tourt. Unter Mischas Trennung leidend und von Schlaflosigkeit zermürbt,
erwartet Max ungeduldig die letzte Bühnenvorstellung.
Zum Ende des fesselnden Lebensberichts steuert Johan Harstad nun seinen
Erzähler zielstrebig in einer Art zeitgenössischer Katharsis durch ein
abenteuerliches Katastrophenszenario. Dort in Queens, im Haus seiner
Mutter, erwartet Max die Ankunft des drohenden [1][Orkan „Sandy“], der im
Oktober 2012 Kurs auf die Ostküste der USA nimmt. Bald schon erreichen die
Fluten die Außenbezirke New Yorks. Durch die schwarzen Wassermassen watend,
entdeckt Max zwei Huey-Helikopter am nächtlichen Himmel, die ihn aus dem
Dschungel retten werden.
31 Mar 2019
## LINKS
[1] /USA-nach-Sandy/!5080586
## AUTOREN
Eva-Christina Meier
## TAGS
Migration
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