# taz.de -- Roman über Hypergewalt in Mexiko: „Guadalajara ist das Scharnier… | |
> Antonio Ortuño erzählt von Familienkrisen, Geldwäsche und Korruption im | |
> Narcokapitalismus. Ein Gespräch über seinen Roman „Die Verschwundenen“. | |
Bild: Die „anständigen“ Bürger lassen in Mexiko zu, dass das Drogengeld f… | |
taz am wochenende: Antonio Ortuño, Sie leben in Guadalajara. Dort spielt | |
auch Ihr jüngster Roman „Die Verschwundenen“. Außerhalb Mexikos ist | |
Guadalajara vor allem für seine bedeutende Buchmesse bekannt. Doch Sie | |
präsentieren eine ganz andere Seite dieser Stadt. Wovon handelt das Buch? | |
Antonio Ortuño: Es geht um eine Bauunternehmerfamilie und deren Krise. Mit | |
ihrem Geld, das aus Transaktionen des organisierten Verbrechens stammt – | |
Geldwäsche also –, errichten sie Olinka, eine große Wohnanlage. Doch das | |
Immobilienprojekt entwickelt sich bald zum Fluch für die Familie. Die | |
ursprünglichen Bewohner des Terrains wollen nicht gehen, und der | |
Schwiegersohn landet im Gefängnis. | |
Ihr Roman beginnt erst einmal wie ein Krimi? | |
Mich interessiert die narrative Spannung in Thrillern. Ich versuche, eine | |
Geschichte anhand ihrer Personen und ihrer Sprache zu entwickeln. Dabei | |
bediene ich mich gewisser Elemente des Krimis. Das erscheint mir sehr | |
verlockend. | |
„Die Flores werden dich kaltmachen.“ Der erste Satz fängt den Leser auf | |
diesem Wege ein und erfüllt vielleicht auch Erwartungen an einen | |
zeitgenössischen mexikanischen Roman | |
Klar, es wird Spannung erzeugt, aber es lokalisiert die Handlung auch in | |
der mexikanischen Realität – der Erfahrung, mit der existierenden | |
Hypergewalt zu leben. Durch die Zahl der Toten, der Verschwundenen und der | |
Opfer von Verbrechen ist das Niveau der Gewalt in Mexiko fast mit einem | |
Krieg zu vergleichen. | |
Durch zahlreiche Rückblenden entwickelt die Erzählung ein überraschendes | |
Panorama komplexer Persönlichkeiten. Was war Ihre Absicht? | |
Literarisch ist es für mich wichtig, dass die Gewalt nicht wie in einem | |
Actionfilm zu einer Inszenierung gerät – mit Autos, Schüssen, mit Helden, | |
Opfern und ein paar Schurken. Das wäre viel zu einfach. In dieser Form | |
finden die Dinge in Mexiko nicht statt. Deshalb war die kontinuierliche | |
Erinnerung an die Geschichte der Personen, der Stadt und der Gesellschaft | |
wichtig, um zu verstehen, warum etwas passiert. | |
Das Immobilienprojekt der Familie Flores im Roman heißt Olinka – nach den | |
Plänen für eine utopische Künstlerkolonie, die ein Doktor Artl einst auf | |
dem Gelände errichten wollte. Gibt es dazu einen historischen Bezug? | |
Der Roman ist fiktiv, er beruht aber auf Ereignissen, die in Mexiko | |
tatsächlich stattgefunden haben. Auch Doktor Artl hat wirklich existiert, | |
genauso wie sein Vorhaben, eine Künstlergemeinschaft mit dem Namen Olinka | |
zu gründen. Komischerweise veröffentlichte der mexikanische Kurator | |
Cuauhtémoc Medina zeitgleich mit dem Erscheinen des Buches eine Studie über | |
dieses Projekt von Doktor Artl. | |
Ihr Kollege, der mexikanische Schriftsteller Juan Pablo Villalobos, | |
twitterte kürzlich über die „Verschwundenen“: „Es ist ein Roman, der | |
anspricht, was in Guadalajara tabu ist; ein skurriles Bild unserer | |
Scheinheiligkeit und der kolonialen Codes, die in der Stadt weiterhin | |
Gültigkeit haben, aktualisiert durch die Brutalität des Narcokapitalismus.“ | |
Welche Rolle spielt die Stadt Guadalajara im System des organisierten | |
Verbrechens in Mexiko? | |
Guadalajara ist das Scharnier. Hier verbindet sich das Geld, der Einfluss | |
und sogar die physische Präsenz der Narcos mit der Gesellschaft und der | |
sichtbaren Macht. Viele Jahre war Guadalajara der Ort, an dem die Familien | |
der Narcos lebten und wo die Kartelle wie an keinem anderen Ort ihr Geld | |
investierten. Trotzdem sind sie nicht wie etwa in Sinaloa die Besitzer der | |
Häuser, Straßen und Restaurants. Guadalajara ist die Stadt, die sie zum | |
Leben ausgewählt haben und wo ihre Geschäftspartner wohnen. Aber „Die | |
Verschwundenen“ ist kein Roman über Drogenhändler, sondern über die | |
Unternehmer und theoretisch anständigen Kreise der Gesellschaft. Sie bilden | |
die andere Seite des Phänomens, weil sie zulassen, dass das Geld fließt. | |
Aurelio Blanco, der Protagonist des Romans, wird nach 15 Jahren aus dem | |
Gefängnis entlassen, nachdem ihn sein Schwiegervater Don Carlos zum | |
Bauernopfer seiner windigen Unternehmungen gemacht hatte. Trotzdem lösen | |
sich seine Rachepläne schon bald in Luft auf. Was ist er für ein Mann ? | |
Ich glaube, Blanco ist ein ziemlich gutes Beispiel für die Mittelschicht in | |
Mexiko. Eine entpolitisierte Klasse, die die Reichen bewundert und jede | |
Möglichkeit nutzt, sich bei den ökonomischen Eliten des Landes | |
anzuschleichen. Blanco ist von einer Dienstbotenmoral geprägt. Sogar | |
literarisch ist er der Hund der Familie Flores. Statt sich nach dem | |
Gefängnisaufenthalt an ihnen zu rächen, versucht er wieder seine alte | |
Position bei ihnen einzunehmen. Natürlich sehnt er sich nach der Entlassung | |
nach seiner Ex-Frau und will seine Tochter wiedersehen, aber die | |
Hauptanziehungskraft für ihn besitzt Don Carlos. Er ist der Anführer und | |
Chef. | |
Am meisten scheint Aurelio Blanco aber zu beunruhigen, dass sich allgemein | |
herumgesprochen zu haben scheint, dass er in all den Jahren im Gefängnis | |
keinen Sex hatte. | |
Das Reden der anderen über seine 15-jährige Enthaltsamkeit ist für ihn | |
demütigend. Denn er glaubt, für dumm, naiv oder weniger männlich gehalten | |
zu werden. Bei den Leuten im Gefängnis und draußen sorgt die Geschichte für | |
Heiterkeit. Es war mir wichtig, die Erzählung nicht in ein Melodram zu | |
verwandeln, weil sie dann nicht den Grad einer Tragödie erreicht hätte, den | |
ich beabsichtigte. In vielen Momenten gibt es so einen ironischen Blick. | |
Für mich war es deshalb wesentlich, dass die Figur diese männliche Kränkung | |
erträgt. | |
„Die Verschwundenen“, oder im Original „Olinka“, erschien fast zeitglei… | |
auf Spanisch und auf Deutsch. Ist die Rezeption des Romans außerhalb | |
Mexikos eine andere? | |
Klar, jemand, der das Buch in Mexiko liest, wird mehr verstehen, weil darin | |
sehr direkt von der mexikanischen Gesellschaft die Rede ist. Außerdem ist | |
das Buch in einer Sprache geschrieben, die viel mit der Sprache | |
Guadalajaras zu tun hat, voll von Diminutiven und Euphemismen. Es ist eine | |
sehr höfliche Sprache, und das ganze Buch spielt damit. Ich denke, trotz | |
der intensiven Arbeit des Übersetzers ist das unmöglich ins Deutsche zu | |
übertragen. | |
Andererseits fällt auf, dass Übersetzungen mexikanischer Literatur sehr oft | |
von Verbrechen und Gewalt handeln. | |
Nicht alle Bücher über Gewalt sind gleich, warum sollte man sie also in die | |
gleiche Schublade schieben. Das wäre, als ob man sich aus der Entfernung | |
darüber beschweren würde, dass in Deutschland zu viele Bücher über den | |
Nationalsozialismus erscheinen würden. Das ist eine Phase, die für | |
Deutschland ein Davor und Danach markierte – für die Menschen, das | |
Zusammenleben und die Geschichte. Im Gegenteil, mir erscheint es | |
merkwürdig, wenn aktuell jemand in Mexiko etwas schreibt, das absolut | |
nichts mit der Gewalt im Land zu tun hat. Guadalajara ist eine Großstadt | |
wie Berlin, nur mit mehr Hochhäusern, breiteren Straßen und mehr Verkehr. | |
Aber in Berlin bringen sie dich nicht um. Es gibt keine 60 Toten an einem | |
Wochenende. | |
14 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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