# taz.de -- Roman von Katerina Poladjan: Ein Jahrhundert auf der Couch | |
> In „Goldstrand“ erzählt Katerina Poladjan eine Familiengeschichte, die | |
> quer durch den europäischen Kontinent im 20. Jahrhundert führt. | |
Bild: Der „Goldstrand“ am Schwarzen Meer ist mehrfach Bühne in der verwick… | |
Felix hat eine Vision. Als junger Architekt, der nach dem Zweiten Weltkrieg | |
für das neu gegründete Stadtplanungsinstitut in Sofia arbeitet, möchte er | |
Häuser bauen, in denen „man für immer bleiben möchte“: „Man schaut aus… | |
Fenster, und das Fenster hat genau das richtige Maß.“ Die revolutionären | |
Gebäude sollen „von einfacher geometrischer Struktur“ sein. Seinem Vater | |
schreibt er voller Enthusiasmus: „Beton ist für uns der neue Marmor!“ Der | |
Sohn weiß auch schon, wo seine architektonischen Ideen realisiert werden | |
sollen, nämlich an einem idyllischen Küstenabschnitt am Schwarzen Meer. | |
Dort wohnt sein Vater Lew in einer Hütte am Strand. Fernab von Freunden und | |
Familie ergeht sich der Mann in endloser Trauer. Auf einer Schiffspassage | |
von Odessa nach Konstantinopel verschwand seine Tochter aus unerfindlichen | |
Gründen an einem frühen Morgen 1922. Lew beginnt eine lebenslange Suche, | |
nimmt den verstörten Sohn mit an einen wilden Strand, an dem die Tochter | |
nach Berechnungen des Vaters hätte an Land gehen können. Schließlich bleibt | |
er in der bulgarischen Fremde, weil die Nachrichten aus der Heimat zu | |
„düster“ sind. | |
Viele Jahre später kann Felix die ehrgeizige Leiterin am Institut | |
„Glavprojekt“ überzeugen, seine Pläne umzusetzen. Jedenfalls rollen schon | |
bald Bagger und Baumaschinen über den Sand, um ein Ferienparadies für die | |
Arbeiterklasse hochzuziehen, für das es auch schon einen Namen gibt: | |
Goldstrand. | |
Kaum sind die ersten Hotelbauten fertiggestellt, strömen die | |
Menschenmassen. Der Vater freut sich nicht nur über die Erfolge des Sohns, | |
sondern angeblich auch über das Ende seiner Einsamkeit und lässt sich als | |
Hausmeister in einem Betonklotz am Goldstrand anstellen. An „einem heißen | |
Julitag des Jahres 1958“ stirbt er kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag. | |
Diese nahezu realsozialistische Geschichte erzählt der Filmregisseur Elia | |
Fontana seiner Therapeutin, einer geheimnisvollen Dottoressa. Der | |
inzwischen fast sechzigjährige Mann ist offenbar in verwickelten | |
Familienverhältnissen aufgewachsen, jedenfalls scheint er die Behandlung | |
nötig zu haben. | |
## Die Schaffenskrise des ehemals Berühmten | |
Die Sitzungen finden jeden Donnerstag statt, und zwar in Rom, wo der | |
Erzähler im verfallenen Haus seiner Großeltern wohnt. Nach der | |
Gesprächsstunde zieht er durchs Stadtzentrum, erinnert sich an Episoden aus | |
seinem Leben, wie er zum Beispiel die deutsche Touristin Jenny | |
kennengelernt hat, die über römischen Barock promovierte. | |
Elia war damals stolz, auf Partys als „die Rettung des italienischen Kinos“ | |
vorgestellt zu werden, hat er doch für seine symbolträchtigen und | |
handlungsarmen Filme entsprechend viele Preise bekommen. Inzwischen | |
befindet sich der Regisseur in einer Schaffenskrise. Er weiß nicht mehr, | |
welche Geschichten er verfilmen soll. Die Dramen der eigenen Familie hat er | |
ausgiebig in Szene gesetzt, auch wenn nicht immer erfolgreich: „Lew wurde | |
in meinem Film von Marcello gespielt. Leider war Marcello nicht in | |
Höchstform. Er meinte, immerzu eine russische Schwere spielen zu müssen. Es | |
war grässlich, wie er seufzend die Augen niederschlug.“ | |
[1][Katerina Poladjan] schickt mit dem Filmregisseur ein ganzes Jahrhundert | |
auf die Couch. Immer neue Verlustgeschichten werden erzählt, trotzdem lässt | |
die Schriftstellerin ihre Figuren nicht im Trübsinn herumirren. Von den | |
Schrecknissen der Vergangenheit erzählt sie vielmehr in einem lakonischen, | |
manchmal auch heiteren Tonfall. Das ist keineswegs unangemessen, sondern | |
auf wundersame Weise befreiend. Bei ihr sind die meisten Menschen Opfer und | |
Täter zugleich, geben ihre Traumata unentwegt an die nächsten Generationen | |
weiter. Dabei erzielt das Eingestehen schmerzhafter Wahrheiten einen | |
gewissen therapeutischen Erfolg. | |
Manchmal findet sich im Leid auch eine Liebesgeschichte: 1961 reist die | |
22-jährige Francesca mit einer Gruppe linker Studenten an den Goldstrand, | |
weil ihr Freund von der postfaschistischen „Erholungsarchitektur“ schwärmt. | |
Die Betonbauten am Strand interessieren die junge Italienerin aber weniger | |
als der Erfinder Felix, mit dem sie schon bald am nächtlichen Strand liegt. | |
Schwanger kehrt sie nach Rom zurück, woraufhin die erzreaktionäre Familie | |
die gefallene Tochter verstößt. Das uneheliche Kind wird auf den biblischen | |
Namen Elia getauft, wächst bei den seltsamen, aber auch liebevollen | |
Großeltern auf. Kein Wunder, dass sich Elia, der sich lieber Eli nennen | |
lässt, den väterlichen Teil der Familie zu ergründen versucht und als | |
rastlos Unglücklicher später die eigene Vaterschaft zerstört. | |
## Format von TV-Serie aus Frankreich, Israel und USA | |
Die erzählerische Grundkonstellation, die Katerina Poladjan für ihren neuen | |
Roman nutzt, ist nicht neu. Vor allem in seriellen TV-Formaten ist das | |
Therapeutensetting seit einigen Jahren beliebt: In der französische | |
Dramaserie „En thérapie“, die unlängst auf Arte zu sehen war, geht es unt… | |
anderem um Patienten, die durch die islamistischen Anschläge vom 13. | |
November 2015 in Paris traumatisiert wurden. „En thérapie“ ist eine | |
Adaption der israelischen Reihe „BeTipul“, die wiederum Vorlage für die | |
US-Serie „In Treatment“ war, in der die belastenden Erfahrungen eines | |
Kampfpiloten im Irakkrieg zur Sprache kommen. | |
Poladjan belässt es nicht bei der Gesprächssituation, sondern spielt mit | |
sehr unterschiedlichen Formen und Stilen. Dialoge wie aus dem absurden | |
Theater gehen über in intellektuelle Reflexionen, cineastische Bilder | |
wechseln sich mit antiken Mythen ab. Gramsci, Pasolini, Scola, Calvino, | |
Pavese, Duchamp, Heiner Müller und Giorgio Moroder finden Eingang in den | |
Text, mal mit direkten Zitaten, mal mit versteckten Verweisen. | |
Poladjan springt in den Epochen, durchstreift den europäischen Kontinent, | |
um den ganz normalen Wahnsinn einer Familie zu beschreiben. Dabei ist ihre | |
Prosa niemals schwermütig oder überladen. Wie schon in ihrem Roman | |
„Zukunftsmusik“, der von vier Frauen in einer „Kommunalka“ östlich von | |
Moskau im Jahr 1985 handelt und der für den Preis der Leipziger Buchmesse | |
nominiert war, entwickelt Poladjan abermals eine historische Fiktion, die | |
auf unheimliche Weise leichtgängig ist. | |
In dem Buch gibt es keine Zeile, die überflüssig wäre. Eine glatte | |
Spracharchitektur wie die Bauten am Goldstrand, könnte man meinen, doch | |
unter der literarischen Oberfläche legt die Autorin wie eine Therapeutin | |
die Risse und Brüche der europäischen Geschichte offen. Dieser | |
beeindruckende Roman bietet Erkenntnis durch ästhetische Erfahrung. | |
4 Sep 2025 | |
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[1] /Neuer-Roman-von-Katerina-Poladjan/!5836895 | |
## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
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