# taz.de -- Roman über erste Dramatikerin der Welt: Rätselhafte Hrotsvit | |
> Sarah Raichs Roman „Hell und laut“ erzählt von Hrotsvit von Gandersheim. | |
> Die erste deutsche Dichterin hat im 10. Jahrhundert dem Patriarchat | |
> getrotzt. | |
Bild: Stiftskirche Gandersheim: Heute vergleichsweise urban war der Ort um 950 … | |
So frustrierend: Am Ende dieses feurigen Romans von Sarah Raich steht das | |
dringende Bedürfnis, nun auch seiner Hauptfigur zu begegnen, also | |
wenigstens ihren Schriften. Denn „Hell und laut“ dreht sich um Hrotsvit von | |
Gandersheim. | |
Und die hat zwischen 935 und 973 [1][wirklich gelebt und gedichtet.] Sie | |
ist die erste Dramatikerin der Weltliteratur. Ihre Werke sind auch gut | |
überliefert. Es gibt sie aber nicht, obwohl sie existieren. | |
Der deutsche Buchmarkt hat da eine Lücke. Die veralteten Übersetzungen der | |
famosen Helene Homeyer veröffentlicht kurz bevor sie aus Nazi-Land floh, | |
sind längst vergriffen und aus den Bibliotheken entfernt. Das neuere | |
Reclam-Bändchen mit zwei Dramen findet sich bestenfalls secondhand. Und im | |
Internet kommt so richtig nur auf seine Kosten, [2][wer das verwachsene | |
Vulgär-Latein des 10. Jahrhunderts liest], das schon damals niemand zu | |
Literatur zu formen vermochte. | |
Niemand, außer dieser rätselhaften, nicht durchs Gelübde gebundenen | |
Bewohnerin eines Nonnenstifts in der sächsischen Provinz: Hrotsvit | |
[3][hatte sich dem Regime der Zwangsverheiratung erfolgreich entzogen] – so | |
wie Frauenfiguren ihrer Stücke sich gegen das patriarchale Regime ihr | |
Selbstbestimmungsrecht erstritten haben. | |
Raich übersetzt das geschickt in erfundene Familiengeschichte, ebenso wie | |
konkrete erotische Erfahrungen, die sich in Hrotsvits Texten detektieren | |
lassen. Dabei geht sie mit der von Altphilolog*innnen als verroht | |
empfundenen Sprache ihrer Epoche so virtuos um, wie eine Amanda Gorman mit | |
ihrem auch nicht gerade klassischen Englisch. | |
Eingängig sind ihre Rhythmen, melodisch ihre Verse, und ja, Hrotsvit | |
experimentiert sporadisch auch mit Reimen: Die nutzt damals fast nur die | |
persisch-arabische Kultur. Wäre Hrotsvit mit der in der im Entstehen | |
begriffenen Urwaldsiedlung am westlichen Harzrand in Berührung gekommen? | |
Total unwahrscheinlich. Bloß unwahrscheinlich ist halt diese gesamte | |
Person, unwahrscheinlich auch ihr literarisches Werk mitten in einem | |
Jahrhundert, für das im Kanon der Allgemeinbildung kein Platz ist. | |
Das ist viel zu reich an verzwickten Intrigen, zu verstörend durch die | |
Pornokratie im Vatikan, zu unübersichtlich durch die Entwicklungen in ganz | |
Europa, die auch das Verhältnis der Geschlechter in diskursive Bewegung | |
gebracht hatten. | |
In diese Zeit und ihre Weltpolitik hat sich Hrotsvit eingeschrieben, am | |
deutlichsten durch eine Vers-Chronik, die Ottos I. Taten rühmt. Die | |
entstand erst, als aus dem König schon ein Kaiser geworden war, also | |
nachdem er sich in den wichtigen Fehden durchgesetzt hatte, gegen seinen | |
ersten Sohn und gegen den aggressiven Bamberger Berengar II., Markgraf von | |
Ivrea und usurpatorischer König Italiens, [4][den Sie möglicherweise nicht | |
kennen.] Nicht schlimm: In Raichs Roman können Sie ihn kennenlernen. | |
Sarah Raich beleuchtet nämlich diese Epoche und ihr oft schrilles Personal | |
mit erstaunlichem Detailwissen: Vor diesem fesselnden historischen Panorama | |
– [5][fast ohne] störende Anachronismen – choreografiert sie über große | |
geografische und zeitliche Distanzen hinweg die große Zahl der | |
Unwahrscheinlichkeiten, die ihre Heldin ausmachen, zu einer so | |
abenteuerlichen Erzählung. Die erweckt, höchst spannend, die Geschichte | |
jener „seltsamen Frau“, als die Hrotsvit sich selbst erschienen sein muss, | |
zum Lesen. | |
Raich agiert dabei als Komplizin des Œuvres. Sprich: Sie nutzt es zwar | |
auch als Quelle einer imaginären Biografie Hrotsvits. Vor allem aber | |
destilliert sie aus ihm die Biografie ihres Imaginären, also von Hrotsvits | |
Begehren, ihren Träumen. Nachvollziehbar wird so [6][ihr rätselhafter | |
Drang], zu dichten: „In allem war ein Lied, das zu ihr sang“, heißt es | |
einmal. Das klingt schön, ist es auch. Es benennt aber zugleich eine Last, | |
der Hrotsvit ausgeliefert ist, wie einem Tinnitus. | |
[7][Raich ist in Göttingen geboren.] In Bad Gandersheim war sie Schülerin | |
des Gymnasiums, das damals gerade nach Hrotsvit benannt wurde. Das wirkt | |
freilich wie die Folge einer Strategie der perversen Erinnerung, die dazu | |
dient, sich mit der Figur zu schmücken, ihr Werk aber umso besser zu | |
negieren. Sieht Raich ähnlich: Hrotsvit sei ihr jedenfalls „im Unterricht | |
kein einziges Mal begegnet“, bestätigt sie. | |
Die Anregung, im Fach Latein auch mal etwas von ihr zu übersetzen, statt | |
immer nur verschwurbelte Kriegsrhetorik, sei erfolglos geblieben. Sie | |
selbst aber habe „Hrotsvit seitdem nicht losgelassen“. Anfang des | |
Jahrhunderts, während des Literaturstudiums, aber abseits auch davon, habe | |
sie dann begonnen, die nur scheinbar frommen Texte der Kanonisse zu lesen, | |
erst aus einer Art Pflichtbewusstsein. | |
## Vergewaltigungen und Femizide | |
Aber dann mit wachsender Begeisterung: Vor allem in den Vorreden, in denen | |
diese Frau „Ich“ sagt und ihr eigenes Schreiben thematisiert, bleibt sie | |
wunderbar gegenwärtig. „Mich hat diese latente Renitenz – dieser deutliche | |
Wille, den eigenen Weg zu gehen, sehr beeindruckt.“ | |
Raichs Roman ist ein durchaus deftiges Buch, wie könnte das anders sein | |
angesichts einer Protagonistin, die in einer ihrer Komödien [8][die | |
peinliche männliche Hauptfigur dabei zeigt, wie sie Töpfe und Pfannen | |
begattet]. Auch berühmte Schlachten kommen vor, bei denen Blut spritzt und | |
Schädel gespalten werden. Manchmal lehnt sich die Komposition sehr an | |
konventionelles Thriller-Plotting an. | |
Umso überzeugender aber verzahnt der Roman das Leben Hrotsvits in kühnem | |
fiktiven Griff mit dem Werdegang des Liutprand, [9][der zum Bischof von | |
Cremona avanciert]: Kaum eine reale historische Gestalt verbindet besser | |
als dieser hoch intellektuelle Aufsteiger die geografischen Sphären und | |
Machtzirkel, die Hrotsvits Werk zusammenbringt. | |
Im Roman fungiert Liutprand als eine Art Lehrer Hrotsvits, der ihr Talent | |
erkennt, sie beneidet und missbraucht: „Hör auf, schrie sie und blieb doch | |
stumm, wusste nicht mehr, ob sie wach war, oder träumte.“ | |
Hrotsvit selbst schreibt noch expliziter über Vergewaltigungen, | |
dauerpräsent ist das Thema Femizide. Sie erzählt sie als Teil weiblichen | |
Martyriums. Und immer wieder sucht die Frage der äußeren und inneren | |
Gegenwehr ihre Texte heim. | |
Dieses Fragen wird auf bewegende Weise in „Hell und laut“ kenntlich als | |
Signatur weiblichen Schreibens. Dadurch macht der Roman Hrotsvit in all | |
ihrer Ferne und Fremdheit zur Zeitgenossin. [10][Längst überfällig wäre, | |
ihr eine Bühne zu bereiten]. | |
26 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://tuttle.taz.de/der-gute-ruf-gandersheims/!407949&s=Hrotsvit&… | |
[2] https://www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lspost10/Hrotsvitha/hro_dr02… | |
[3] https://www.vr-elibrary.de/doi/abs/10.7767/miog.2024.132.2.245?journalCode=… | |
[4] https://www.manfred-hiebl.de/mittelalter-genealogie/anskarier_markgrafen_vo… | |
[5] https://mittelalterliche-geschichte.de/kosuch-andreas-01/ | |
[6] https://www.taylorfrancis.com/chapters/edit/10.4324/9781003006923-3/hrotsvi… | |
[7] https://www.sarah-raich.de/ | |
[8] https://www.jstor.org/stable/4173324 | |
[9] https://geschichtsquellen.de/autor/3635 | |
[10] https://tuttle.taz.de/!479225/ | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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