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# taz.de -- Biografie des Schriftstellers Balzac: Ruin oder Hauptgewinn
> Titiou Lecoq räumt in ihrer Biografie mit Legenden über Honoré de Balzac
> auf. Die Geschichte seines Lebens ist auch die Geschichte seiner
> Schulden.
Bild: Honoré de Balzac (1799–1850) hatte drei Wünsche im Leben: bekannt, ge…
„Und da man für achthundertneunzigtausend Francs fünfzigtausend Francs
Rente hat, so müsste man ihn dazu bringen, dass er auf zwei Jahre
hundertvierzigtausend Francs leiht, rückzahlbar in zwei Raten. In zwei
Jahren haben wir aus Paris hunderttausend Francs Zinsen, und hier
neunzigtausend; wir setzen also nichts auf Spiel.“
Wo immer man einen Roman von Honoré de Balzac aufschlägt (hier in „Ein
Junggesellenheim“), wird man sehr schnell auf Stellen wie diese stoßen.
Denn es geht immer um Geld, Erbschaften, Geschäfte, Spekulationen, den
sozialen Aufstieg oder Absturz, den Hauptgewinn oder den Ruin. Und um die
Liebe, die jedoch unausweichlich an die Sphäre des Geldes gekoppelt ist,
des Geldes in seiner modernen und abstrakten Form als allgemeines
Äquivalent.
Dass sich Balzac in dieser Sphäre bestens auskannte, was ihm Marx und
Engels attestiert haben, nimmt nicht Wunder. Nach Titiou Lecoq, deren
Biografie Balzacs mehr oder weniger deckungsgleich mit der Geschichte
seiner Schulden ist, strebte er drei Ziele in seinem Leben an: „Er wollte
bekannt, geliebt und reich werden.“
Die ersten beiden Ziele hat er zweifellos erreicht. Als er dem dritten
durch die Hochzeit mit Ewelina Hańska endlich nahe gekommen war, erkrankte
er, konnte nicht mehr laufen, nicht mehr sehen und starb fünf Monate
später.
## Balzacs Mutter, eine „hysterische Megäre“?
Die Autorin, über die uns der deutsche Verlag mitteilt, sie habe, bevor sie
sich dem Schreiben zuwandte, „als Nachtwächterin, Empfangsdame, Sekretärin,
Erzieherin, bei einer Bank und beim Arbeitsamt“ gearbeitet und Semiotik
studiert, weist anfangs auf [1][zwei Klischees über Balzac] hin, nämlich,
dass er zu viel Kaffee getrunken habe und seine Mutter eine „hysterische
Megäre“ gewesen sei.
„Letzteres“, fährt sie fort, „folgt einer mehr oder weniger impliziten
Regel der Literaturgeschichte, der zufolge Schriftsteller entweder eine
glückliche Kindheit oder eine böse Mutter hatten.“ In Balzacs Fall war
nach eigener Aussage angeblich das zweite der Fall. In Wahrheit verhält es
sich so, dass Honorés Mutter auf alles Mögliche verzichtete, um ihrem Sohn
zu helfen und zu retten, was schon längst nicht mehr zu retten war.
Zu retten war spätestens nichts mehr, nachdem Balzac in den Jahren 1830 und
1831 mit drei Büchern nicht nur berühmt geworden war, sondern diese sich
auch bestens verkauften, vor allem der Roman „Das Chagrinleder“, der ein
Riesenerfolg wurde.
Die Geschichte ist bekannt: Mit jedem Wunsch, den der geheimnisvolle
Talisman aus Chagrinleder dem Protagonisten erfüllt, schrumpft das Leder um
ein kleines Stück. Bei Balzac verhielt es sich gewissermaßen
spiegelbildlich. Mit jedem Erfolg wuchsen seine „Verbindlichkeiten“, wie
man es heute ausdrücken würde. Ende 1832 hatten sich seine Schulden
gegenüber dem Jahr 1830 verdreifacht, weil auch seine Ausgaben exponentiell
gestiegen waren.
## Leidenschaftlicher Inneneinrichter
Lecoq beschreibt sehr schön, wie das begonnen hat. In der Zeit, in der
Balzac in einer Mansarde in der Nähe der Bastille hauste und an seinem
künftigen Ruhm arbeitete, begann er, sich für etwas zu interessieren, das
ihn sein Leben lang beschäftigen und gigantische Ausmaße annehmen sollte:
die Inneneinrichtung. Er strich sein Zimmer neu und verschönerte es, und
als er in einem Laden einen „entzückenden Spiegel für 20 Francs entdeckte�…
nahm er einen kleinen Kredit auf und kaufte ihn.
Leider wird nicht erzählt, wer ihm diese 20 Francs lieh, ob eine
Privatperson oder eine Bank, aber so viel lässt sich sagen: Balzacs
Schuldenkarriere begann mit einem Mikrokredit. Von dort beschritt er
konsequent den Weg zur kostspieligen Repräsentation qua Luxusausstattung
seiner Wohnungen, edler Kleidung, Dienstpersonal und großen Diners. Er
finanzierte das unter anderem durch Vorschüsse auf Bücher, von denen nicht
mehr als die Titel existierten, und auch sonst war seine geschäftliche
Fantasie fast grenzenlos.
Allerdings auch erfolglos: Alle unternehmerischen Versuche, begonnen mit
dem Versuch des Einstiegs in den Buchhandel und fortgesetzt mit dem –
selbstverständlich kreditfinanzierten – Kauf einer Druckerei oder dem Kauf
einer Zeitung, die kurz vor der Einstellung stand, zeugen von einer
völligen Verkennung der jeweiligen Marktsituation und einem lebenslangen
mangelnden Geschäftssinn.
## Von der Schwierigkeit, vernünftig zu sein
Entsprechend konnte er auch seine eigene Lage nicht realistisch einschätzen
(bei Lecoq trägt das diesbezügliche Kapitel die Überschrift „Von der
Schwierigkeit, vernünftig zu sein, wenn man Balzac heißt“). [2][Wolfgang
Pohrt] hat das 1984 so auf den Punkt gebracht: „Als Opfer seiner
Verschwendungssucht wiederum erhörte und vollstreckte Balzac nur den Willen
des Geldes, welches in der Form einer endlichen, bezifferbaren Summe nicht
existieren kann, ohne diese Daseinsweise als eine willkürliche
Einschränkung und als Beleidigung seines ehrgeizigen, kein Maß
akzeptierenden Charakters zu erleben.“
Titiou Lecoq weist in ihrem klugen, elegant geschriebenen (und übersetzten)
Buch darauf hin, dass Balzacs Karriere zeitlich mit der Julimonarchie des
Bürgerkönigs Louis-Philippe zusammenfällt, wenn auch viele seiner Romane in
früheren Jahrzehnten angesiedelt sind.
Das ist zum einen auf die wachsende Bedeutung der Presse ab 1830
zurückzuführen, die erst die Gattung des Feuilletonromans ermöglichte und
damit einen neuen Absatzmarkt für Hunderte Romanschreiber, die miteinander
konkurrierten. Bekannt ist, dass Alexandre Dumas eine ganze Truppe von
Lohnschreibern beschäftigte (angeblich 73), die die Romane verfassten, die
im Feuilleton unter seinem Namen veröffentlicht wurden. Im Gegensatz dazu
hat Balzac übrigens nie seinen Namen für Bücher hergegeben, die er nicht
selbst geschrieben hatte.
Zum anderen aber erlebte der Roman ganz allgemein einen ungeheuren
Aufschwung, wurde zur vorherrschenden literarischen Form und löste die
alten Hierarchien und strengeren Formen ab, weil sich nach 1789 eine neue
gesellschaftliche Unübersichtlichkeit herausgebildet hatte.
„Allein der Roman schien das undurchsichtig erscheinende Gebäude der
Gesellschaft erhellen zu können. […] Das Werk Balzacs diente einer
verworrenen Epoche als Kompass und prägte sie mit seinem analytischen Blick
auf die Gesellschaft: Insofern hat Balzac das 19. Jahrhundert durchaus
(mit)erfunden.“ Und, könnte man hinzufügen, mit seiner thematischen
Fokussierung auf das Geld die Moderne eingeleitet.
## Unzählige Korrekturrunden
Lecoq räumt mit einigen Legenden auf, unter anderem mit der, Balzac habe
seine Manuskripte abgeliefert und sich weiter nicht um sie gekümmert, was
zu dem angeblichen Mangel an „Stil“ führte. Vielmehr verfuhr Balzac mit
Fahnenabzügen ähnlich wie später Marcel Proust. Ohne wenigstens vier- bis
siebenfache Korrekturgänge gingen seine Bücher nicht in den Druck, und
sogar bei Neuauflagen änderte er unaufhörlich und trieb die Drucker ähnlich
zur Verzweiflung wie 90 Jahre später Proust.
Im Vorwort bekennt die Autorin, Balzac sei die große Liebe ihrer Jugend
gewesen: „Ich war mit seinen Figuren aufgewachsen und mit der Sehnsucht
nach einer Zeit, in der Autoren noch Superstars waren.“ Auch wenn Lecoq das
Gegenteil einer Hagiografie schreibt und ihren Helden als „größten
Pechvogel der Literaturgeschichte“ bezeichnet, bleibt von der Jugendliebe
zu Balzac noch genug zu spüren. Nicht obwohl, sondern weil das so ist, ist
daraus eine sehr lesenswerte Biografie entstanden.
8 Apr 2025
## LINKS
[1] /Balzac-Verfilmung-Verlorene-Illusionen/!5900907
[2] /Elf-Baende-von-Wolfgang-Pohrt/!5499310
## AUTOREN
Jochen Schimmang
## TAGS
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