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# taz.de -- Autor*innen des 20. Jahrhunderts: Unterm Kafka-Massiv begraben
> Kennen Sie Bess Brenck Kalischer, Paul Adler, Carl Einstein oder
> Henriette Hardenberg? Eine Leseliste anderer radikaler Autoren nach dem
> Kafka-Jahr.
Bild: Zeit für andere Autor*innen…
Kafka, Kafka, immer wieder Kafka! Nicht erst im nun zu Ende gegangenen
[1][Jubiläumsjahr 2024,] schon seit Jahrzehnten hält sich dieser Autor am
Kuschelpol der deutschsprachigen Literatur: Hier ist mal ein Genie von
Weltrang, darauf können sich vom Literatur-Erstleser bis zur
Großgermanistin nun wirklich alle einigen (man fragt sich, warum nicht
längst Daniel Kehlmann … ach so, hat er ja, mit der [2][Fernsehserie
„Kafka“)!]
Dabei erheben die Texte Franz Kafkas diesen Anspruch gar nicht. Eigentlich
verstehen sie sich nämlich, wie die seiner avantgardistischen
Zeitgenoss:innen, als dezidiert „kleine Literatur“ im Sinne von Gilles
Deleuze und Félix Guattari. Bei den „großen“ Realisten und Naturalisten
(Balzac, Dickens, Fontane, Zola), so argumentieren die beiden französischen
Theoretiker schon 1975 in ihrem Kafka-Buch, geht es darum, „für einen
gegebenen Inhalt in gegebener Form die passende Ausdrucksform“ zu finden –
„Was man gut begriffen hat, kann man auch gut sagen.“
Das gilt auch für die Romanciers des 20. Jahrhunderts, Thomas Mann etwa,
Böll oder Grass. Kafkas „kleine“ Literatur dagegen „beginnt mit dem Sagen
und sieht oder begreift erst später“. Und das ist auch gut so, denn „die
Literatur hat nur Sinn, wenn die Ausdrucksmaschine den Inhalten vorgreift,
sie hinter sich herzieht“.
## Im allegorischen Modus
Genau das tun Kafkas beste Texte, deshalb kann man sie auch nicht so
richtig verstehen. Sie zwingen uns zwar in einen allegorischen Modus – das
seltsame Gericht im „Proceß“, die Foltermaschine in der „Strafkolonie“…
unerreichbare Schloss, die Appetitlosigkeit des Hungerkünstlers, sie
scheinen ganz offensichtlich für irgendetwas zu stehen.
Aber in ihrem Verlauf lösen die Texte, und das ist ihr Trick, ihr
allegorisches Versprechen nicht ein. Sie sind, und zwar mit viel Kunst, so
gestrickt, dass sie sich eben nicht einfach aufs wirkliche Leben übertragen
lassen. Sie scheinen uns etwas Wichtiges sagen zu wollen, tun dies aber
nicht, weil hier eben das Sagen, die literarische Textur, noch nicht auf
einen vorab gegebenen Inhalt verweisen kann und will.
## Der GOAT
Stellt sich die Frage, wie dieser kleine, zu Lebzeiten kaum publizierte
Prager Expressionist zum GOAT, zum größten deutschsprachigen Dichter aller
Zeiten, werden konnte. Die Antwort ist, man muss es so deutlich sagen, die
Geschichte eines laufenden Missverständnisses, und das hat mit dem
allegorischen Modus seiner Texte zu tun.
Viele seiner expressionistischen, dadaistischen oder surrealistischen
Kolleg:innen experimentieren mit sprachlichen Abstraktionen, parallel
zur bildenden Kunst Kandinskys, Picassos, František Kupkas oder Hilma af
Klints. Dabei zerschlagen sie auf der Suche nach einer absoluten Prosa
immer wieder unsere gewohnte Grammatik und unsere realistischen
Vorstellungsrahmen, um beispielsweise zu so kühnen Metaphern zu kommen wie
Gottfried Benns berühmtes „mit meinem blauen Anemonenschwert“.
Die meisten von Kafkas Allegorien kann man auch nicht besser verstehen,
aber man sieht es ihnen nicht an. Auf den ersten Blick scheint ja alles
intakt und gar nicht so schwierig. Jemand verwandelt sich, gut, das lässt
sich unter Magischer Realismus verbuchen. Es lässt sich auch gut
übersetzen. Und vermeintlich versteht man dann eben doch.
## Der Sinn des Lebens
Zu groß ist die Suggestion, dass es hier irgendwie um existenzielle
Zustände geht, um Fragen nach dem Sinn des Lebens (das garantierte übrigens
Kafkas posthumen Erfolg in den 1950er Jahren), um Schmerz (immer gut für
ernste Literatur), Familienprobleme (der Vater!), das Leid des jüdischen
Volkes oder auch einfach Beziehungsprobleme (all die Frauen, siehe
Fernsehserie!). Jedenfalls um etwas Tiefes, sehr Bedeutsames.
Und so sind, um noch einmal Deleuze und Guattari zu bemühen, „die drei
ärgerlichsten Themen vieler Kafka-Interpretationen gerade die Transzendenz
des Gesetzes, die Innerlichkeit der Schuld und die Subjektivität der
Aussage“.
Oder um es einfacher zu sagen: Das Problem gerade jener Kafka-Lektüren, die
diesen Autor so bekannt und beliebt gemacht haben, liegt darin, dass sie im
Grunde immer schon, wie vage auch immer, verstanden zu haben meinen, was
das Genie uns Deepes sagen will. Sie halten seine „kleine“ Literatur für
eine „große“ und verpassen damit genau das, was Kafka besonders macht –
besonders, aber eben auch typisch für seine Zeit.
## Avantgardistische Kurzprosa
Was unter dem übermächtigen Kafka-Massiv begraben bleibt, ist das weite
Feld der originellen avantgardistischen Kurzprosa, die in den 1910er und
20er Jahren im Umfeld des Expressionismus entstand und erscheinen konnte.
Und das ist so schade! Vielleicht könnte man stattdessen Kafkas
Massenerfolg einmal dazu nutzen, sich dieses Feld genauer anzuschauen – da
sind, ich verspreche es, die großartigsten Entdeckungen zu machen.
In seiner Programmschrift „Über das Geistige in der Kunst“ von 1912 hatte
Kandinsky unterschieden zwischen solchen Künstlern, die weiterhin
realistisch arbeiten, dabei aber nicht mehr unsere Welt abbilden, sondern
etwas Geistiges symbolisieren wollen (zum Beispiel die Präraffaeliten oder
Arnold Böcklin), und solchen wie Picasso, bei denen das absolut Neue selbst
Form wird. Entsprechend lassen sich auch in der Erzählliteratur auf der
einen Seite Formen finden, die das Gewohnte mit Mitteln des Unheimlichen
und Grotesken aufbrechen, wie zum Beispiel Alfred Kubins Roman „Die andere
Seite“ oder die Erzählungen Georg Heyms.
Auf der anderen Seite stehen wilde, radikale Texte einer abstrakten
Moderne, die auf den ersten Blick ganz unverständlich sind. Oft geben sie
sich nach außen als Darstellungen von Visionen, von Drogenrausch oder als
Irrenprosa aus.
## Irrenprosa von Schriftstellerinnen
Einige der konsequentesten Versuche in diese Richtung stammen übrigens von
Frauen, zum Beispiel Henriette Hardenberg oder Angela Hubermann. Überhaupt
werden derzeit die Autorinnen der emphatischen Moderne nachhaltig (wieder-)
entdeckt – überaus eindrücklich etwa „Die Mühle“ der aus Rostock stamm…
Bess Brenck Kalischer, ein krasser Irrentext aus weiblicher Sicht, oder der
jiddische Surrealismus Debora Vogels.
Genauso interessant und für uns Realismus-geschädigte Leser:innen zum
Einstieg vielleicht besser geeignet sind solche Texte, die das
Radikal-Absolute zwar anstreben, dabei aber immer vom Gewohnten (und
Verständlichen) ausgehen, wie die Rönne-Novellen Benns oder Carl Einsteins
damals musterbildender Kurzroman „Bebuquin“, dessen Figuren mit allen nur
erdenklichen Mitteln das Absolute, das Wunder suchen und es doch immer auf
groteske Weise verfehlen.
Und einer der schönsten Texte deutscher Sprache ist kürzlich erst wieder
ediert worden: der Kurzroman mit dem wunderbaren Titel „Nämlich“ (1915) aus
der Feder des Prager jüdischen Autors Paul Adler, fünf Jahre älter als
Kafka. Hier finden Sie neben vielem anderen den eindrücklichsten und
ergreifendsten Romanschluss, der mir überhaupt bekannt ist.
## Leseliste nach dem Kafka-Jahr
Interessiert? Dann finden Sie hier eine kleine Leseliste nach dem
Kafka-Jahr mit zwanzig empfehlenswerten Titeln:
1. Paul Adler: „Nämlich“.
2. Gottfried Benn: „Gehirne“.
3. Bess Brenck Kalischer: „Die Mühle“.
4. Theodor Däubler: „Mit silberner Sichel“.
5. Albert Ehrenstein: „Tubutsch“.
6. Carl Einstein: „Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders“.
7. El Hor: „Die Närrin“.
8. Henriette Hardenberg: Prosa.
9. Georg Heym: „Der Dieb“.
10. Angela Hubermann (Angela Rohr): „Der Vogel“.
11. Alfred Kubin: „Die andere Seite“.
12. Else Lasker-Schüler: „Der Malik“.
13. Robert Müller: „Tropen“.
14. Robert Musil: „Nachlass zu Lebzeiten“.
15. Mynona (Salomo Friedländer): Prosa.
16. Walter Rheiner: „Kokain“.
17. Heinrich Schaefer: „Die Zerpressung“ (und andere Prosa).
18. Melchior Vischer: „Sekunde durch Hirn“.
19. Debora Vogel: „Akazien blühen“.
20. Robert Walser: Kurzprosa (und überhaupt alles von ihm).
Falls Sie bei der Lektüre erst mal wenig verstehen sollten, dann wissen Sie
ja jetzt, warum. Und danach reden wir noch mal über Kafka.
4 Jan 2025
## LINKS
[1] /100-Todestag-von-Franz-Kafka/!6011520
[2] /Daniel-Kehlmann-ueber-Kafka/!6011523
## AUTOREN
Moritz Baßler
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