# taz.de -- Daniel Kehlmann über Kafka: „Er ist der Meister der Groteske“ | |
> Franz Kafka war der Autor der Peinlichkeit der Macht. Seine Sprache kann | |
> zudem keine KI imitieren, sagt der Schriftsteller Daniel Kehlmann. | |
Bild: Er veröffentlichte postum alles von ihm: Max Brod (David Kross, l.) und … | |
wochentaz: Herr Kehlmann, ist Franz Kafka heute der berühmteste | |
Schriftsteller der Welt? | |
Daniel Kehlmann: Kafka ist zweifellos heute der einflussreichste | |
Schriftsteller von allen, und ich finde es schön, dass ein Mann, der sich | |
so verloren fühlte, heute alle anderen in den Schatten stellt, ob sie nun | |
Hemingway, Proust oder Joyce heißen. | |
[1][„Die Verwandlung“] ist sein meistgelesenes Werk. Warum stört und reizt | |
uns die Metamorphose eines Büroangestellten in ein Insekt so sehr? | |
Ich glaube, das hängt auch mit dem unglaublichen Schachmatt zusammen, das | |
Kafka in dieser Erzählung gelingt. | |
Welches Schachmatt? | |
Die Tatsache, dass die Verwandlung von Gregor Samsa in ein Insekt in den | |
ersten drei Zeilen stattfindet, und nicht nur, dass der Autor uns keine | |
Erklärung dafür gibt, sondern auch, dass sich niemand darüber wundert. Die | |
ungeheuerlichste Absurdität entpuppt sich als fast selbstverständlich: Das | |
ist der Schachzug von Kafka, der die Literatur von nun an verändern wird. | |
Heute begeistern alle seine Texte Leser in der ganzen Welt. Wie ist das | |
möglich? | |
Weil Kafka zwei Elemente miteinander verbindet, die eigentlich nichts | |
miteinander zu tun haben. In seinen Texten spricht das Unbewusste, die | |
Sprache der Träume. Das ist auch der Grund, warum er das Bedürfnis hatte, | |
nachts zu schreiben, um den hypnotischen Fluss seiner Texte zu verstärken. | |
Er beklagte sich oft, dass für ihn „die Nacht nie Nacht genug war“. | |
Aber mit genau diesem Zauber seiner nächtlichen Sprache beschreibt Kafka | |
die bürokratische Welt der Institutionen. Es ist diese Kombination, die uns | |
sofort gefangen nimmt: ein Fluss von Traumbildern, der sich in das ergießt, | |
was Kundera „die bürokratische Falle der Welt“ nannte. | |
In vielen Szenen zeigt Kafka jedoch die skurrile Seite des Staates: | |
Richter, die in pornografischen Zeitschriften blättern, Gerichte, die wie | |
verdorbene Saunas aussehen. Ist er der Dichter des Grotesken der Macht? | |
Er ist der Autor der Peinlichkeit der Macht, der absolute Meister der | |
Groteske. Kafka stammte aus Prag, und seine Groteske ist zart, sie nährt | |
sich von sehr leichten Verzerrungen. Kurzum, Kafka bringt einen zum | |
Schmunzeln über Gerichtsdiener und Wächter, Boten und Richter, die so | |
manisch und gleichzeitig komisch sind, und trotzdem gefährlich. | |
In diesem Sinne schreibt sich Kafka in die humoristische Tradition des | |
magischen Prags ein, die Tradition des Soldaten Schwejk oder von Bohumil | |
Hrabal. | |
Gewiss, Kafkas Literatur ist weder deutsch noch österreichisch oder gar | |
russisch, sie verweist auf die histrionische Familie Mitteleuropas, mit | |
ihrem nackten und derben Humor und ihrer Leidenschaft für die gröbste | |
Menschlichkeit: für die Wäscherinnen und die feuchten Bierstuben, die | |
fetten Köche und die nächtlichen Spelunken. | |
Wenn wir uns ihm heute näher fühlen, verdanken wir das auch seinen | |
Tagebüchern und Briefen, die voller Ängste und Misserfolge sind. | |
Man sagt, seine Literatur sei rätselhaft, geheimnisvoll. Aber es gibt nur | |
wenige Autoren, die wir so gut kennen, und zwar dank [2][Max Brod], der | |
jede Zeile, jeden Brief von ihm veröffentlicht hat. In jeder seiner Notizen | |
aber, auch in den banalsten, ist Kafka immer auf höchstem poetischen | |
Niveau. Er legt nie ein Gekritzel nieder, [3][sein Biograph Reiner Stach] | |
sagte einmal: „Kafka schlief nie.“ Damit meint er die ungeheure sprachliche | |
Wachheit dieses Geistes. | |
Eines der auffälligsten Merkmale seiner Prosa ist die apodiktische | |
Einfachheit, die absurde Präzision seiner wildesten Sätze. Zum Beispiel: | |
„Ein Käfig ging einen Vogel suchen.“ | |
Alles, was er schreibt, ist unnachahmlich in seiner poetischen Energie. | |
Kafka spielt mit der Logik und konstruiert wie im Flug eine andere Logik | |
der Welt. Ich könnte Thomas Manns Stil imitieren, niemals den von Kafka, | |
weil man nie weiß, wie, warum und woher die Musik seines Satzes kommt. | |
Generationen von Marxisten haben versucht, vor allem in den Labyrinthen des | |
„Processes“ und in der Unerreichbarkeit des „Schlosses“ eine immanente | |
Kritik des kapitalistischen Systems zu lesen. Aber war Kafka jemals an | |
Politik interessiert? | |
Nein, gerade seine extreme Sensibilität für die Sprache macht ihn sozusagen | |
immun gegen jede historische und politische Abstraktion und jede Doktrin. | |
Kafka ist kein Philosoph, er ist auch kein Professor, und wir finden bei | |
ihm kein wirkliches Interesse an der politischen Sphäre. Selbst in Bezug | |
auf den Ersten Weltkrieg war er weder dagegen, wie Karl Kraus oder Heinrich | |
Mann, noch war er von ihm begeistert. | |
Max Brod hingegen spürte, dass im „Schloss“ die Luft des Heiligen | |
vibrierte. Aber ist Kafkas Verhältnis zur Religion so ausgeprägt? | |
Ich glaube nicht, dass Brods religiöse Interpretation völlig falsch ist. | |
Wie in Becketts „Godot“ ist es unmöglich, im „Schloss“ keine Andeutung… | |
von Transzendenz wahrzunehmen. Kafka hatte jedoch seine eigene private | |
Mythologie und pflegte zu sagen: „Es gibt unendlich viel Hoffnung, aber | |
nicht für uns.“ Ich bin überzeugt, dass er an einen Gott und ein Jenseits | |
glaubte, aber auch daran, dass wir diese himmlische Welt nie sehen werden. | |
Wie die Boten des Kaisers, die abreisen, aber nie kommen werden, um uns die | |
Botschaften zu überbringen. | |
Doch das erste Versprechen, das sich Kafka und seine Verlobte Felice Bauer | |
geben, ist, gemeinsam nach Palästina zu gehen. Natürlich ist Kafka nie in | |
das Heilige Land gereist, aber er hat sich immerhin mit Gartenbaukursen | |
vorbereitet. | |
Er war fasziniert von der Reise nach Palästina und hatte sogar Hebräisch | |
gelernt, aber er war nie ein Nationalist oder überzeugter Zionist. Einer | |
seiner tiefsinnigsten Sätze ist für mich im Übrigen: „Was habe ich mit den | |
Juden zu tun? Ich habe nicht einmal mit mir selbst etwas zu tun!“ Ein Satz, | |
den wir jedes Mal überdenken sollten, bevor wir über Identitätspolitik | |
sprechen. | |
Ist Kafka heute, inmitten einer digitalen Welt, in den Mythen der | |
Transparenz und der totalen sozialen Kommunikation, das richtige | |
Gegenmittel? | |
Jede Literatur ist ein Gegenmittel gegen die angebliche Transparenz und | |
Unmittelbarkeit der Kommunikation auf digitalen Plattformen. Kafka ist so | |
originell, dass kein Algorithmus seinen Klang reproduzieren kann. Jede KI | |
reproduziert den wahrscheinlichsten und naheliegendsten Text, aber Kafka | |
ist der Autor par excellence der unwahrscheinlichsten Texte. | |
Mit K.s Situation im „Process“ oder der des Landvermessers vor dem | |
„Schloss“ zeichnet Kafka eine sehr präzise Architektur der Macht. Je näher | |
wir dem Kern des Gesetzes kommen, desto mehr entzieht es sich uns nicht | |
nur, sondern verstrickt sich in ein unentwirrbares Chaos. | |
Wir alle glauben beharrlich, die Macht sei ein geordneter Ort, an dem alles | |
und jeder seine Funktion hat. Doch bei Kafka zerfällt dieser Traum in einen | |
fortschreitenden Albtraum. Ja, je mehr wir versuchen, die Nerven der Macht | |
zu erfassen, desto mehr verdichtet sich der Nebel in den Hallen des | |
„Processes“ oder des „Schlosses“ zu einem reinen Chaos. | |
Am Ende des „Processes“ bittet der Angeklagte die Flöhe im Bart des | |
Gerichtsdieners um Auskunft. Sind es vielleicht wir selbst, die uns von den | |
Institutionen versklaven lassen? | |
In Wirklichkeit ist der Angeklagte selbst der Schuldige und führt den | |
Prozess gegen sich fast alleine durch. Es ist nicht so eindeutig, dass K. | |
schuldlos ist. Und im „Schloss“ – sind wir sicher, dass K. wirklich ein | |
Landvermesser ist? Bei Kafka gibt es keinen Anstoß zur Befreiung oder zur | |
Erlösung, in seinen Texten begeben wir uns vielmehr in ständige | |
Missverständnisse, und das erhöht auch die Schuld seiner Protagonisten. | |
Protagonisten, die Kafka manchmal mit grausamer Brutalität bestraft. In der | |
„Strafkolonie“ wird das Urteil zum Tode in die Haut der Verurteilten | |
tätowiert. Ist Kafka ein Asket, dessen Prosa bis zum brutalsten | |
Sadomasochismus gehen kann? | |
„In der Strafkolonie“ ist eine ausgesprochen aktuelle Erzählung, in der | |
Kafka von Askese und Folter, sadomasochistischer Ekstase und Gefangenschaft | |
erzählt. Eine Erzählung voller Anspielungen auf den Ersten Weltkrieg und | |
die verbrannten Leichen der Soldaten, aber auch auf die Tatsache, dass | |
Kafka in der Versicherung mit Industriemaschinen und verletzten Arbeitern | |
zu tun hatte. Wie immer erklärt Kafkas traumhafte Sprache die | |
Funktionsweise der Foltermaschine nicht ganz, und wie in „Der Process“ oder | |
„Das Schloss“ bleibt alles in der Schwebe. | |
Ist nicht gerade diese Unbestimmtheit und der fragmentarische Zustand | |
seiner Texte das Geheimnis seines Erfolgs? | |
Gewiss, seine Romane sind echte traumhafte Fragmente. Kafkas Texte müssen | |
im Zustand schwebender Fragmente bleiben, denn, wie Jonathan Franzen mir | |
einmal sagte, „Träume sind auch so, vage, fragmentarisch und unendlich“. | |
Es ist kein Zufall, dass er einer der wenigen Autoren des 20. Jahrhunderts | |
ist, denen es gelingt, sich in die Gedanken von Insekten und Hunden, von | |
Affen und Mäusen hineinzuversetzen. | |
Kafkas Tiere sind nicht die erbaulichen Tiere der Märchen, und er wählt nie | |
große, starke oder gefährliche Tiere. Es sind einsame, unterwürfige Tiere, | |
eingesperrt in erstickenden Räumen. Doch obwohl sie Sklaven sind, bringen | |
diese Figuren nie dagewesene Überlegungen zum Ausdruck: Affen, die sich | |
weigern, menschlich zu werden, Hunde, die nicht mehr am Essen riechen | |
wollen, Mäuse, die über den Status der Kunst nachdenken. | |
1 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Stefano Vastano | |
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