# taz.de -- Autor Ocean Vuong: Ein anständiges Leben | |
> Sängerin Dua Lipa und Moderatorin Oprah Winfrey sind Fans: Ocean Vuong | |
> ist der Shootingstar unter den Poeten. Im neuen Roman stehen randständige | |
> Menschen im Fokus. | |
Bild: Shootingstar unter den Poeten: Ocean Vuong | |
Die [1][Sängerin Dua Lipa] bekennt sich [2][gleich zu Beginn des Gesprächs] | |
als Fan: „I was putting down a list of authors who I would dream to talk to | |
– you were at the top.“ Ihr Gast: der vietnamesisch-US-amerikanische Autor | |
Ocean Vuong. Und auch Oprah Winfrey begrüßt ihn [3][in der aktuellen Folge | |
ihres berühmten Bookclubs] voller Begeisterung: „Let me introduce you to | |
this genius man!“ | |
Ocean Vuong hat es geschafft – in der zumeist eher publicityfernen | |
Literaturszene ist er zum Shootingstar unter den Poeten geworden. Seit dem | |
Erfolg seines millionenfach verkauften Debütromans [4][„Auf Erden sind wir | |
kurz grandios“ (2019)] hat er viele hoch dotierte Preise gewonnen und eine | |
Creative-Writing-Professur an der New York University (NYU) angenommen. | |
Sein Auftreten ist stets von großer Sanftheit geprägt. Nichts scheint ihn | |
unberührt zu lassen. Er erzählt von der Entschleunigung beim | |
handschriftlichen Schreiben langer Texte und greift ganz intim seine | |
Familiengeschichte auf. Wenn er Gedanken ausführt, beginnt seine Stimme | |
manchmal sogar zu zittern; als würde er in dieser kaputten Welt von einem | |
Dämon der Empathie geplagt werden. | |
In genau dieser Welt will Vuong für andere schützende Stimme sein: ein | |
trostspendender Ruhepol. Schreiben versteht er als „act of care“, einen Akt | |
der Fürsorge. Die ungebrochene Ernsthaftigkeit seines Selbstverständnisses | |
und Verantwortungsgefühls fällt auf – gerade, wenn man an den eher | |
Pathos-skeptischen deutschsprachigen Raum gewöhnt ist. Vermutlich ist es | |
das auratische Bild des Autors, der in jedem Wort nichts als das | |
authentische Empfinden sucht, was viele begeistert. | |
## Ränder der amerikanischen Gesellschaft | |
Nachdem sein Debüt vor allem autobiografisch geprägt war, richtet sich der | |
Blick in seinem nun bei Hanser erschienenen zweiten Roman auf die Ränder | |
der amerikanischen Gesellschaft. „Für diejenigen, die uns ernähren“, so d… | |
hehre Widmung von „Der Kaiser der Freude“, den Anne-Kristin Mittag und | |
Nikolaus Stingl aus dem Englischen übersetzt haben. | |
Die Geschichte spielt 2009 – während der ersten Amtszeit [5][Obamas] – in | |
der fiktiven Kleinstadt East Gladness in New England. Auf einer Brücke am | |
Stadtrand wird der 19-jährige Protagonist Hai im letzten Moment von der | |
84-jährigen Grazina von seinem Suizidversuch abgehalten. | |
Er zieht bei ihr ein, und schnell entsteht eine Freundschaft. Hai begleitet | |
Grazina in ihrer Demenz, vor allem wenn sie von Erinnerungen an ihre Flucht | |
aus Litauen während des Zweiten Weltkriegs gequält wird. Daneben arbeitet | |
er in dem Fast-Food-Restaurant HomeMarket. Hier gehört er zu einer Handvoll | |
Menschen, die hauptsächlich damit beschäftigt sind, sich durch schlecht | |
bezahlte Arbeit über Wasser zu halten. | |
Es ist der Alltag des HomeMarket-Teams, der die Grundlage des Romans | |
bildet. Die Schichten, Pausen und Herausforderungen. Das aus Pragmatismus | |
geborene Miteinander. Die Solidarität. Aber auch die fast beiläufig | |
eingenommenen Opioide. | |
## Melancholische Sprachbilder | |
[6][Die melancholischen Sprachbilder, für die Vuong bekannt ist,] waren | |
bereits in seinem Debüt in Fülle vorhanden, flackerten auf zwischen den | |
Fragmenten einer zerbrechlichen Lebensrealität. In „Der Kaiser der Freude“ | |
geraten sie jedoch schief und werden bis ins Rührselige überstrapaziert: | |
„Als hätte sich die eingerostete Waage der Welt schließlich doch zugunsten | |
der Barmherzigkeit geneigt.“ Vielleicht handelt es sich dabei um Akte der | |
Fürsorge. Doch gerade in Dialogen wirken sie oft eher wie bemüht | |
geistreiche Sentenzen: „Du willst Schriftsteller werden, und du willst von | |
einer Brücke springen? Das ist so ziemlich das Gleiche, oder?“ | |
Die Mitarbeiter:innen des HomeMarket haben jeweils eine spleenige | |
Eigenheit. So träumt BJ von einer Musikkarriere, und Sony, Hais Cousin, | |
begeistert sich für den Amerikanischen Bürgerkrieg. Sie scheint wenig | |
anderes auszumachen. Denn fast jedes Mal, wenn sie vorkommen, wird ihre | |
Eigenheit aufs Neue hervorgehoben. Dieses Wiederholen ist ermüdend und | |
hinterlässt den Eindruck, bei den Figuren handele es sich um bloße Skizzen. | |
Die Erzählstimme unterbricht gerne Szenen, um noch einmal das | |
Offensichtliche zu erklären. Auch wenn das Erleben der Figuren eigentlich | |
für sich selbst spricht. Etwa bei der Beschreibung des Gesundheitswesens: | |
„Aber wohin kam sie jetzt? Sie kam an einen Ort, der zwar Freiheit verhieß, | |
sie aber einzig durch einen von Mauern und Schlössern umfriedeten | |
egalitären Raum ermöglichte.“ | |
Solche plakativen Passagen erinnern an [7][Paulo Coelho.] Vielleicht steckt | |
dahinter aber auch nur ein verborgener Kniff Ocean Vuongs: „Warum | |
eigentlich kam es ihm, immer wenn er etwas Wichtiges sagte, vor, als würden | |
ihm die Worte eingegeben, aus dem Pfuhl sämtlicher je gesehener schlechter | |
Filme am Grund seines Schädels?“ | |
## Tugend der Bescheidenheit | |
Schnell wird klar: Niemand aus dem Team macht Karriere oder kann dem | |
Hamsterrad des Niedriglohnsektors auf eine andere Weise entkommen. Indem | |
Vuong in seinem Text ein Narrativ des Gleichbleibens entwickelt, will er | |
sich gegen die Überzeugung wehren, dass nur Auf- oder Abstiegsgeschichten | |
erzählenswert sind. Und sich so der tatsächlichen Lebensrealität vieler | |
Menschen annähern. In einem kürzlich erschienenen Gespräch mit [8][der | |
Autorin Jia Tolentino] nennt Ocean Vuong dies „transformation without | |
change“. | |
Diese Einstellung geht im Roman aber mit einer sonderbaren Sympathie für | |
die Tugend der Bescheidenheit und Akzeptanz einher: „Am Leben zu sein und | |
zu versuchen, ein anständiger Mensch zu sein und nichts Großes oder | |
Gewaltiges draus zu machen, das ist das Allerschwerste.“ Zu diesem Schluss | |
kommen die Figuren in ihrer verzweifelten Lage. Seltsam schwankt der Text | |
an solchen Stellen dann zwischen Einfühlsamkeit, Trost und | |
sozialromantischer Relativierung. Ob es tatsächlich der Weisheit letzter | |
Schluss ist, anständig zu sein und sich einfach immer zu arrangieren, | |
bleibt fragwürdig. | |
Ebenso fragwürdig ist, ob es dem Roman damit trotz seiner Länge gelingt, | |
seinem Anliegen der Darstellung prekärer Lebensentwürfe gerecht zu werden. | |
Vielleicht reichen bloße Einfühlsamkeit und Trost auch schlicht nicht aus, | |
um sich zu interessanter Literatur zusammenzufügen. | |
10 Jun 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Tourauftakt-von-Dua-Lipa-in-Hamburg/!6085986 | |
[2] https://youtu.be/3W7DmKjzryU?si=ZU_Lb0WMz6Y8Cie-&t=29 | |
[3] https://youtu.be/CghReJZYQ2k?si=QOfFpRqh_ftVzvRn | |
[4] /Ocean-Vuong-ueber-den-American-Dream/!5625041 | |
[5] /Reden-beim-Demokratenparteitag/!6031683 | |
[6] /Gedichte-von-Ocean-Vuong/!5669516 | |
[7] /Literatur-von-Paulo-Coelho/!5031726 | |
[8] /US-Bestseller-ueber-die-Millennials/!5752270 | |
## AUTOREN | |
Sidney Kaufmann | |
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