| # taz.de -- Ocean Vuong über den American Dream: „Wie bitte reden wir von Li… | |
| > Ocean Vuong ist eine der spannendsten jungen Stimmen aus den USA. Der | |
| > Autor über die Kraft der Sprache und queeres Scheitern als Chance. | |
| Bild: Kommt aus einer Kultur des Geschichtenerzählens: der Autor Ocean Vuong | |
| taz: Herr Vuong, es geht in Ihrem [1][Debütroman] um Familie, Verliebtsein | |
| und Selbstfindung eines schwulen Teenagers in den USA der Neunziger- und | |
| Nullerjahre. Aber auch um den Vietnamkrieg, Drogenmissbrauch und den | |
| American Dream in Zeiten von Trump. Wollten Sie gleich mit Ihrem ersten | |
| Roman eine Great American Novel vorlegen? | |
| Ocean Vuong: Ich habe nicht versucht, eine Great American Novel zu | |
| schreiben, sondern über das geschrieben, was für mich wichtig war. Und das | |
| ist zufällig Amerika. Ich glaube, Sie haben recht mit Ihrer Lesart der | |
| Auflösung des amerikanischen Traums. Soweit ich weiß, sind die USA das | |
| einzige Land, das einen solchen Mythos braucht, um nicht | |
| auseinanderzufallen. Amerikanische (Bildungs-)Romane sind oft nervös, | |
| denken Sie an J. D. Salingers „Der Fänger im Roggen“ oder Sylvia Plaths | |
| „Die Glasglocke“. HighSchool, College, dann ist es vorbei. Keine | |
| Vorgeschichte. | |
| Sie erzählen auch von der Mutter und der Großmutter des Ich-Erzählers in | |
| Vietnam. | |
| Ja. Ich wollte den Bildungsroman umformen zu etwas, das auch zurückschaut. | |
| Und vorwärts. So konnte ich Gewalt in Amerika von seinem Epizentrum aus | |
| verfolgen. | |
| Das Nagelstudio, in dem die Mutter schuftet, und die Tabakfarm, wo der | |
| Erzähler jobbt, sind Mikrokosmen der Einwanderergesellschaft. | |
| Amerika basiert auf Arbeit: Tabakfarmen, Kohleminen, Nagelstudios. Aber der | |
| amerikanische Traum bröckelt, wenn man auf die gebrochenen Körper blickt, | |
| die ihn ermöglichen. Meine Hoffnung mit dem Buch ist, südostasiatische | |
| Identität in den USA zu unterscheiden von allgemein-asiatischer Identität | |
| in den USA à la „einfach alle gelb“: Südostasiaten in den USA haben, | |
| verglichen mit anderen Asiaten dort, die größten Probleme mit psychischer | |
| Gesundheit; die höchste Schulabbrecherquote – und das geringste Einkommen | |
| und die geringste Englischsprecherquote. Die Geschichte von Asiaten in den | |
| USA ist sehr divers: Chinesen bauten dort schon im 19. Jahrhundert | |
| Eisenbahnen; Vietnamesen kamen in erster Linie seit 1975. | |
| Es heißt, Sie haben Ihren Bestseller in einem Kleiderschrank geschrieben. | |
| Ich war in einer engen Wohnung in New York. Meine Mitbewohnerin hatte drei | |
| Kleinkinder. Sie war auf der Flucht vor häuslicher Gewalt. Die Kinder waren | |
| traumatisiert von ihrem Alkoholiker-Vater. Ich habe mich gefragt: Wo kann | |
| ich dem Geschrei am besten entkommen, um das Buch zu schreiben? Die Lösung | |
| war der Kleiderschrank. | |
| In Ihrem Buch geht es auch um häusliche Gewalt. | |
| Ich wusste schon vorher, dass ich über häusliche Gewalt schreiben möchte, | |
| aber auf diese Weise wurde das noch mal besonders dringlich: Ich kam ja | |
| jeden Abend an diesen kleinen, verstörten Gesichtern vorbei. Das stellt | |
| etwas mit dir an. | |
| Sie haben das Buch in Briefform geschrieben. Der Erzähler rechnet zugleich | |
| damit, dass seine Mutter – die, wie er, in Vietnam geboren wurde – den | |
| Brief niemals lesen wird, da sie kaum Englisch kann. | |
| Da steckt eine gewisse Aggression drin, etwas auszusprechen, das niemals | |
| ankommen wird. Aber dieser Konflikt ist kennzeichnend für | |
| Eltern-Kind-Beziehungen. Franz Kafkas „Brief an den Vater“ hat mich da | |
| inspiriert: ein Sohn, der sich vom Vater befreien will. Der Akt, diesen | |
| Brief zu schreiben, ist ein Bekenntnis, ist ein Streit. Aber auch ein Akt | |
| der Liebe. Wenn einem die andere Person nicht wichtig wäre, würde man nicht | |
| all das erzählen. Dieser Konflikt war so greifbar in Kafkas Brief. Am Ende | |
| hat er den Brief aber nie abgeschickt! Das hat es mir angetan. Von der Form | |
| her kommt mein Roman vom Essay. Ich wollte versuchen, ob Sprache wirklich | |
| Denken und Fühlen transportieren kann. Weil der Empfänger gewissermaßen | |
| nicht da ist, liegt ein gewisser Druck auf der Sprache selbst. Was kann | |
| Sprache in unseren Zeiten leisten? Nach der Trump-Wahl gab es in den USA | |
| den stärksten Anstieg des Verkaufs von Gedichtbänden seit 9/11. Ein Beweis, | |
| dass Sprache, dass Poesie von Bedeutung sind. | |
| In einer Passage heißt es, ein Junge auf einem pinken Fahrrad müsse das | |
| Gesetz der Schwerkraft lernen. Warum? | |
| Als Junge auf einem pinken Fahrrad lernst du beides: das Gesetz der | |
| Schwerkraft – denn du wirst vom Fahrrad gestoßen – und das Gesetz der | |
| Maskulinität. Stereotype von Männlichkeit wollte ich mit meinem Roman | |
| aufgreifen. Als ich aber mit Verlegern in den USA sprach, wollten sie das | |
| Buch in andere Richtungen drängen: „Lass uns einen Drogenroman draus | |
| machen!“ – „Lass uns einen Migrantenroman machen!“ – „Lass uns Trev… | |
| rausnehmen!“ | |
| … den Geliebten der Hauptperson. Man wollte das Buch also auf hetero | |
| bürsten. Hatten Sie Angst, von bestimmten Dingen zu schreiben? Und welche | |
| brachten am meisten Spaß? | |
| Vergnügen bereitet haben mir besonders die sinnlichen Details, vor allem | |
| auf der Tabakfarm. Der schwierige Teil war, das alles nicht | |
| „hochliterarisch“ aufzuladen. Lass den Sex verschmutzt sein! Auch zu Ehren | |
| all der queeren Menschen, die niemals eine Landkarte hatten, die ihnen | |
| gezeigt hätte, wohin es zum Glück geht. In Sexualkunde spricht niemand | |
| darüber, wie queere Körper Vergnügen finden. Ich wollte der queeren Kultur | |
| Tribut zollen, die auch Misserfolg als innovative Triebkraft fruchtbar | |
| macht. Wir versagen ja von Anfang an: Wir enttäuschen unsere Eltern. Wir | |
| werden den sozialen Standards nicht gerecht. Und wir versagen beim Sex, wir | |
| wissen ja nicht, wie. Ich wollte also, dass die beiden Typen im Buch erst | |
| mal verkorksten Sex haben – und sich dann gegenseitig retten. | |
| Mit den vielen Parallelen zu Ihrem Leben laden Sie die Leser*innen ein, den | |
| Ich-Erzähler mit Ihnen zu verwechseln. | |
| Das war ein spannendes Experiment für mich: Wird man mich als Autor ernst | |
| nehmen? Oder wird es wie eine Autobiografie gelesen? Die chinesische | |
| US-Amerikanerin Maxine Hong Kingston wollte mit „The Woman Warrior“ 1976 | |
| die Great American Novel schreiben. Basierend auf ihrem Leben, aber ganz | |
| klar ein Roman. Der Verlag hat sie überredet, das Buch als Memoiren | |
| herauszubringen. Damit es sich besser verkauft. | |
| Ist Ihnen das auch passiert? | |
| Manche Verleger meinten, wenn man das Buch als Memoiren umetikettieren | |
| würde, würde ich zu Ellen und Oprah in die Talkshows eingeladen. Denn | |
| Amerika will ja das „echte Leben“: Keep it real! Und einige weiße Menschen | |
| haben ein aufrichtiges Interesse zu wissen, wie es ist, nichtweiß zu sein. | |
| Doch dieses Verlangen ignoriert oft die Anliegen des Autors. Nein, danke, | |
| ich schreibe keinen Touristenführer! Ich mache Kunst. | |
| Eine Passage beschäftigt sich damit, wie martialisch amerikanische | |
| Metaphern oft sind und wie das toxische Maskulinität produziert. | |
| Man könnte ja sagen, das sind bloß Redensarten: „You smashed it! You killed | |
| it!“ Schlimmer wird es, wenn wir über Intimität sprechen. Sex. „I owned | |
| her. I fucked her brains out. He’s a lady-killer.“ Wie bitte reden wir von | |
| Liebe? Ich als Außenseiter habe mich gefragt: Warum ist die Metapher des | |
| Todes so beharrlich, wo es doch so viele andere gäbe? Der Mythos vom Gang | |
| nach Westen änderte, wie wir über Männlichkeit denken. Noch im 18. und 19. | |
| Jahrhundert gab es romantische Ideen. Oder vorher: Shakespeare! Die Bilder | |
| von King Henry! Der machte doch fast Crossdressing! Drag, Brüste, Blumen. | |
| Das war die Speerspitze der Männlichkeit: ein Typ in Strumpfhosen. | |
| Sie sind der erste Akademiker in Ihrer Familie. Und der Erste, der einen | |
| Roman geschrieben hat. | |
| Und doch komme ich aus einer Kultur des Geschichtenerzählens. Die | |
| Geschichten, die mir die Frauen meiner Familie als Kind erzählten, waren | |
| oft über die Jahrhunderte immer wieder abgewandelt worden. Meisterwerke! | |
| Ein ganzes Volk hat daran geschliffen. Diese Frauen, die keinen Fernseher | |
| hatten, hatten ihre Storys. Ihre Körper wurden zu Bibliotheken. Details, | |
| Tempo, Spannung und Zeitverlauf: All das habe ich von ihnen gelernt. | |
| 25 Sep 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stefan Hochgesand | |
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