# taz.de -- Romandebüt von Ocean Vuong: Arbeitsverbot für „halbe Weiße“ | |
> Patriarchales Vietnam, rassistische USA und die erwachende Sexualität | |
> eines jungen Mannes: Ocean Vuongs „Auf Erden sind wir kurz grandios“. | |
Bild: Kam als Zweijähriger aus Vietnam in die USA: der Schriftsteller Ocean Vu… | |
Der aus Vietnam stammende Erzähler in Ocean Vuongs Roman „Auf Erden sind | |
wir kurz grandios“ war wie der Autor zwei Jahre alt, als er 1990 zusammen | |
mit seiner Mutter und seiner Großmutter in den USA ankam. Nach dem | |
Flüchtlingslager zog die Familie nach Hartford, Conneticut. | |
Weil seine Großmutter unter Schizophrenie litt, musste die Mutter allein | |
für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen. Sie arbeitete in Fabriken, | |
später in Nagelstudios, in denen die Lösungsmittel der Nagellackentferner | |
ihre Gesundheit ruinierten. Ocean Vuong selbst ging aufs College und | |
veröffentlichte erste Gedichtbände, die mit zahlreichen Preisen | |
ausgezeichnet wurden. | |
[1][In seinem autobiografisch geprägten Roman] lässt er seinen Ich-Erzähler | |
auf Kindheit und Jugend in Form eines Briefes an die Mutter zurückblicken. | |
„Wann endet der Krieg“, fragt er sie darin. „Wann kann ich deinen Namen | |
sagen und nur deinen Namen meinen und nicht das, was du hinter dir gelassen | |
hast?“ | |
## Lan überlebt einen Napalm-Angriff | |
Die Mutter des Erzählers wird diesen Brief wahrscheinlich niemals lesen, | |
weil sie nicht lesen und schreiben kann. Als Fünfjährige musste sie mit | |
ansehen, wie ihr Lehrer und ihre Mitschüler bei einem amerikanischen | |
Napalm-Angriff im Schulgebäude verbrannten. Und im Chaos der Kriegszeit | |
konnte sie keine Schule mehr besuchen. Lan, die Großmutter des Erzählers, | |
war in Vietnam eine Außenseiterin. | |
Sie floh aus der arrangierten Ehe mit einem dreimal so alten Mann und wurde | |
von ihrer Familie verstoßen. Ihre Eltern hatten sie einfach nur „Sieben“ | |
genannt, weil sie ihre siebte Tochter war. Sie gab sich deshalb selbst den | |
Namen „Lan“. Um nicht zu verhungern, begann sie als Prostituierte für die | |
amerikanischen Soldaten zu arbeiten. Paul, der Sohn eines Farmers aus | |
Michigan, verliebte sich in sie und heiratete sie. Dann, im Chaos des | |
Rückzugs der Amerikaner aus Saigon, verloren sich beide zunächst wieder. | |
In Vietnam galt Lans Tochter, die Mutter des Erzählers in Vuongs Roman, als | |
Weiße. „Als du noch ein Mädchen in Vietnam warst, haben die Kinder aus der | |
Nachbarschaft mit einem Löffel an deinen Armen geschabt und geschrien: | |
„Runter mit dem Weiß, runter mit dem Weiß von ihr!“ Später, als Erwachse… | |
darf sie in Vietnam als „halbe Weiße“ nicht arbeiten. Die Familie flieht in | |
die USA, stellt den Kontakt zum Großvater Paul wieder her. | |
## Krank im Kopf | |
Der Vater des Erzählers spielt im Roman keinen Rolle. Es wird nur erwähnt, | |
dass er die Mutter häufig schlägt und sie ihn früh verlässt. Aber auch die | |
Mutter ist von ihrem Leben überfordert und schlägt ihren Sohn immer wieder. | |
Erst später erkennt er, dass sie keine Chance hatte. „Deine Mama“, sagt | |
seine Großmutter einmal zu ihm, „sie nicht normal, ja? Sie Schmerz. Sie | |
wehtun. Aber sie dich will, sie uns braucht. … Sie dich liebt, … Aber sie | |
krank. Krank wie ich. In Kopf.“ | |
Der Erzähler in Vuongs Roman weiß, dass ein Teil seiner Mutter für immer in | |
ihm selbst steckt, dass der Hass, den er gegen sie richten würde, auch | |
gegen ihn selbst gerichtet wäre. „Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist | |
deshalb kein kafkaesker „Brief an den Vater“, sondern der Versuch, seiner | |
Mutter näher zu kommen. Und es ist ein Buch der Selbstvergewisserung. | |
Als Kind und Jugendlicher scheint ihm nichts sicher. Seine Person, sein | |
Ich, selbst seine Sprache ist von Gewalt geprägt. „Unsere Muttersprache ist | |
so überhaupt keine Mutter – sondern eine Waise. Unser Vietnamesisch eine | |
Zeitkapsel, die den Punkt markiert, an dem deine Bildung endete, zu Asche | |
zerfiel. Ma, unsere Muttersprache zu sprechen heißt, nur teilweise auf | |
Vietnamesisch zu sprechen, aber ganz auf Krieg.“ | |
## Rassismus in der Schule | |
Der Brief an die Mutter ist deshalb vor allem der Versuch, die eigene | |
Identität zu festigen. In mal kurzen, mal längeren Abschnitten folgt der | |
Erzähler dem Weg der Erinnerung und der Themen. Er berichtet vom Rassismus | |
in der Schule und von dem Moment, in dem er entdeckte, dass er sich nicht | |
für Mädchen, sondern für Jungen interessiert. Wie er das voller Furcht | |
seiner Mutter erzählt, die ihm daraufhin das Geständnis macht, dass sein | |
Großvater Paul gar nicht sein wirklicher Großvater ist, sondern irgendeiner | |
der Freier seiner Großmutter. | |
„Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist ein eindrucksvolles Buch, | |
geschrieben in einer poetischen Sprache. Es ist ein Buch der | |
Selbstvergewisserung durch das Schreiben über die eigene Geschichte. Einer | |
Geschichte, die durch einen Krieg geprägt ist, der noch Generationen später | |
das Leben der Menschen bestimmt. | |
Dabei steht die Erfahrung von Vuongs Erzähler in vielem stellvertretend für | |
die verborgene und verschwiegenen Erfahrungen, für das Leiden vieler | |
Flüchtlinge und Migranten. „Ich erinnere mich“, sagt er gegen Ende des | |
Buches, „wie ich lernte, dass Heilige die einzigen Menschen sind, deren | |
Schmerz bemerkenswert ist, bemerkt wird. Ich erinnere mich, dass ich | |
dachte, du und Lan sollten Heilige sein.“ | |
17 Aug 2019 | |
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## AUTOREN | |
Fokke Joel | |
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