| # taz.de -- Autor über sein Leben als Transmann: „Ich war ein Rough-Ass-New-… | |
| > Ein Gespräch mit iO Tillett Wright über queeren Aktivismus, die | |
| > Vernachlässigung durch drogenabhängige Eltern und sein Buch „Darling | |
| > Days“. | |
| Bild: „Ich bin kein Trans-Aktivist, sondern radikaler Humanist“ | |
| Die Mama war auf Speed, der Papa auf Heroin. iO Tillett Wright, 32, erzählt | |
| in seinem Debüt „Darling Days“, einem romanhaften Memoir mit Fotos, von | |
| seiner Kindheit in prekärer Boheme. Das Verhältnis zu den Eltern stand | |
| unter emotionaler Wechselspannung: Einerseits haben sie iO, in dessen | |
| Geburtsurkunde „weiblich“ steht, nie verwehrt, ein Junge zu sein. | |
| Andererseits glich die Wohnung der gladiatorhaften Mama einer Müllhalde, | |
| und iO wurde viel zu früh eine Verantwortung aufgebürdet, die ein Kind | |
| nicht tragen kann, ohne Schaden an der Seele zu nehmen. iO Tillett Wright | |
| kennt man in den USA auch als MTV-Moderator, Schauspieler („Sex in the | |
| City“), erfolgreichen Fotokünstler und Queer-Aktivisten (ein Vortrag bekam | |
| 2,6 Millionen Klicks im Netz). In dem Buch beschreibt er auch das | |
| Tohuwabohu, das ihn als Kind auf der Jungstoilette packte: die | |
| existenzielle Panik, bloßgestellt zu werden von einer Umwelt, die ihn | |
| abartig finden könnte. „Darling Days“ ist aber auch die Geschichte einer | |
| emotionalen Emanzipation, samt Empowerment. | |
| taz: Mr Wright, Darling Days, das sind diese seltenen Tage, an denen alles | |
| perfekt ist. Warum haben Sie das ganze Buch so genannt, obwohl es darin so | |
| wenige Darling Days gibt? | |
| iO Tillett Wright: Der Titel ist ein Wink auf den Optimismus, den Kinder an | |
| den Tag legen, wenn es um ihre Beziehung zu den Eltern geht. Wie sie ihnen | |
| immer wieder eine neue Chance einräumen, auch wenn alles schiefläuft. Meine | |
| Mama war für mich lange ein Vollzeitjob. Jedes Kind von Drogenabhängigen | |
| wird Ihnen das bestätigen. In der Beziehung zu meiner Mutter geschah das | |
| immer wieder: Ich wurde verletzt, ging davon, raffte mich zusammen, ging | |
| zurück und wurde immer wieder aufs Neue verletzt. Und trotzdem versiegte | |
| mein Optimismus nie. | |
| Wie konnten Sie sich nur an all die Details aus Ihrer Kindheit und Jugend | |
| erinnern? | |
| Ich habe die ganze Zeit Tagebuch geschrieben. Die ältesten Notizbücher, die | |
| ich wiederfand, waren aus der Zeit, als ich acht, neun Jahre alt war. Meine | |
| Mama hat außerdem ein Archiv mit 2.500 Fotos von mir. Sie hat quasi jeden | |
| Tag meiner Kindheit dokumentiert, bis ich ausgezogen bin. Meine Eltern sind | |
| übrigens beide davon überzeugt, dass sie sehr lebendige Erinnerungen an | |
| diese Zeit haben. Und trotzdem widersprechen sie sich in vielen Punkten. | |
| Ich hab das alles noch einmal gelesen und jedes einzelne Foto gescannt. | |
| Dabei habe ich realisiert, dass ich trans bin und auch damals schon war. | |
| Wenn man die Fotos sieht, kann man die Wahrheit nicht negieren, die dieses | |
| Kind von Anfang an auszudrücken versuchte. | |
| Schon als Kind haben Sie einige Jahre lang offiziell, auch in der Schule, | |
| als Junge gelebt. Und trotzdem kamen Sie nie auf die Idee, dass Sie trans | |
| sind? | |
| Das Wort gab es in meiner Welt nicht. Dort gab es auch sonst niemanden, der | |
| wie ich war. | |
| Nicht mal im künstlerischen Umfeld Ihrer Eltern, in dem Dragqueens nicht | |
| weiter ungewöhnlich waren? | |
| Nicht mal dort habe ich das Wort je gehört. Das passierte erst, als ich | |
| schon in meinen Zwanzigern war. Und selbst da noch schien es etwas | |
| Unheimliches, Stigmatisiertes. Ich war damals nicht queer-sensitiv, sondern | |
| einfach ein Rough-Ass-New-York-Kid. | |
| Als Kind hatten Sie eine „Orangensaft-Theorie der Gefühle“. Wenn man jemand | |
| anderem erklären will, wie man sich fühlt, sei das, was beim Gegenüber | |
| ankommt, als würde man Orangensaft mit Wasser auffüllen: verwässerte | |
| Intensität, nicht mehr authentisch. | |
| Um mein Trauma mitzuteilen, habe ich also übertrieben, als Kind und als | |
| Twen auch noch. Ich habe mir Pflaster aufgeklebt auf nicht vorhandene | |
| körperliche Wunden. Das war ein Hilfeschrei. Im Buch komme ich ja sogar auf | |
| meine eigenen Übertreibungen, meine Lügen zu sprechen. Ich blieb lange | |
| loyal gegenüber meiner Mama. Ich wollte Leuten nicht direkt sagen, dass es | |
| bei uns zu Hause an manchen Tagen kein Essen gab oder uns der Strom | |
| abgestellt wurde. Und trotzdem musste mein Schmerz irgendwie raus. Als ich | |
| erwachsen wurde, habe ich dann aber gemerkt: Wenn du willst, dass dich | |
| jemand versteht, musst du, statt zu übertreiben, eine bessere Sprache dafür | |
| finden. Heute ist mir das sehr klar, dass ich mein Buch nur Memoir nennen | |
| kann, wenn es wahrhaftig ist. | |
| Wie war das für Sie, sich beim Schreibprozess mit all dem wieder zu | |
| konfrontieren? | |
| Es war der Horror! Und das Kathartischste, das ich jemals getan habe. Ich | |
| hatte wirklich eine schwere Zeit, in New York als angehender Fotokünstler | |
| über die Runden zu kommen. Dass ich eine Posttraumatische Belastungsstörung | |
| aus meiner Kindheit mittrage, habe ich lange ignoriert. Irgendwann kocht | |
| das aber über und erwischt dich. Ich hatte einen Zusammenbruch. Inzwischen | |
| will ich alle Verdrängungsmechanismen vermeiden und mein Leben neu angehen. | |
| Ich bin nach Kalifornien gezogen, war in einem Zwölf-Schritte-Programm für | |
| Menschen mit drogenabhängigen Eltern. | |
| Sie arbeiten schon eine ganze Weile an einem umfangreichen Fotoprojekt | |
| namens „Self Evident Truths“. | |
| Leute hatten mich 2010 eingeladen, bei einer Ausstellung in Kalifornien | |
| mitzumachen. Das Thema war „Gleichheit“, angesichts von Proposition 8, dem | |
| Volksentscheid gegen die Ehe für alle von 2008. Ich war damals noch so jung | |
| und hab gar nicht ans Heiraten gedacht oder über meine Identität als | |
| queerer Mensch gegrübelt. Doch mit dem Volksentscheid wurde mir bewusst: | |
| Ich bin ein Bürger zweiter Klasse. Wie konnte so etwas in den USA | |
| geschehen, einem Land mit einer sowieso schon total kaputten | |
| Bürgerrechtsbilanz? Wer stimmt für eine solche Ungerechtigkeit? Ich glaube, | |
| es hat damit zu tun, dass Leute denken, sie kennen keine Schwulen, Lesben | |
| oder trans Menschen. Ich dachte also: Was geschieht, wenn ich durch meine | |
| Fotos einer besorgten katholischen Mama die wunderbaren queeren Menschen | |
| vorstelle, die ich kenne? | |
| Sie halten auch Vorträge an Schulen. | |
| Die Mehrheit der Eltern hat schlichtweg Angst um das Wohl ihres Kindes. Die | |
| Wurzel ihrer Angst ist Liebe. Sie machen sich einen Kopf darüber, dass ihr | |
| Kind einsam werden könnte oder krank oder arbeitslos. Viel hat sich seit | |
| 2010 geändert, als ich mit dem Projekt begann. Durch die vielen Coming-outs | |
| seitdem hat der Umgang mit dem Thema eine menschliche Note bekommen. Diese | |
| Humanisierung brauchen wir. Wenn sich jetzt ein Teenager im Midwest der USA | |
| outet, kennt hoffentlich jede Mama schon andere queere Menschen. | |
| Es geht Ihnen um Sichtbarkeit. | |
| Ja. Ich dachte: Wenn ich etwas kann, um zu helfen, dann ist es | |
| Fotografieren. Es hat begonnen mit 45 Porträts von Menschen, die nicht | |
| heterosexuell sind. Ich wollte auch das Gegenteil der gängigen Klischees | |
| abbilden, die Leute so im Kopf haben. Ein landesweites Projekt, in jedem | |
| Bundesstaat. Ich bin jetzt bei 9.807 Porträts. Bah! | |
| Sie fragen die Menschen, die Sie fotografieren, inzwischen, wo sie sich auf | |
| dem Spektrum von Homosexualität und Gender verorten würden. | |
| Ich bin trans. Mein Girlfriend hat also einen Boyfriend. Aber einen | |
| Boyfriend mit Titten und Vagina. Da wird’s schon komplizierter. Mit meinem | |
| ursprünglichen Fragebogen hatte ich einen gängigen Fehler fortgesetzt, | |
| binär zu denken. | |
| Und wie konfrontieren Sie Menschen mit Ihrem Projekt? | |
| Ich gebe die Fotos kostenfrei weiter, wann immer sie jemand drucken oder | |
| sonst wie zeigen will, und hoffe, dass das zu vielen Gesprächen anregt. Das | |
| Thema ist ja so ziemlich das persönlichste, worüber man als Individuum | |
| sprechen kann. Zudem ist die Mentalität, je nachdem, wo man wohnt, sehr | |
| unterschiedlich. In Alabama hilft es vielleicht mehr, wenn man 60 queere | |
| Menschen zeigt, die beim Militär waren, weil das dort was zählt. In Boston | |
| dagegen wäre es vielleicht besser, Menschen mit irischen Vorfahren zu | |
| zeigen. Damit Leute etwas sehen, das sie einfach zu sich in Beziehung | |
| setzen können. Meine Taktik ist also, die Bilder wegzugeben an Leute, um | |
| sie damit bei ihren persönlichen Gesprächen starkzumachen. Viel queere | |
| Rhetorik ist sehr jargonhaft, intellektuell und akademisch. Aber viele | |
| Menschen haben nicht die Bildung, um zu verstehen, worüber wir, verfickt | |
| noch mal, überhaupt sprechen. | |
| Wie wichtig ist es Ihnen, Aktivist zu sein? | |
| Das bedeutet mir alles. Aber es ist gar nicht so leicht. Der Untertitel der | |
| deutschen Übersetzung lautet „Mein Leben zwischen den Geschlechtern“. Das | |
| habe ich aber niemals so geschrieben. Auf Englisch heißt mein Buch einfach | |
| „Darling Days“. Das schmerzt mich, auf diese Transgender-Narrative | |
| reduziert zu werden. Ja, es gibt in meinem Buch ein Kind, mich, das | |
| transgender lebt, aber das Buch dreht sich nicht bloß um diese | |
| Transgender-Erfahrung. Es geht auch um Vernachlässigung, | |
| Drogenabhängigkeit, Armut, psychische Krankheit und Eltern-Kind-Beziehung. | |
| Mir geht es nicht nur um LGBT-Zeug. Das ist bloß ein Bein an einem Oktopus | |
| von Themen, die mir wichtig sind. Ich bin kein Trans-Aktivist, sondern | |
| radikaler Humanist. | |
| Sie sind also unzufrieden mit dem deutschen Untertitel. | |
| Ich bin relativ jung und Debütant. Ein Baby in einem Raum mit Titanen: | |
| HarperCollins, Suhrkamp, Ecco. Ich glaube, sie wissen, wie man Menschen am | |
| besten dazu anregen kann, mit meiner Story zu interagieren. Das ist wohl | |
| das Kreuz, das ich tragen muss, damit Leute dem Buch Beachtung schenken. | |
| Das tut aber auch weh, und manchmal fühle ich mich wie ein Zirkusaffe. | |
| Gestern in einem Radio-Interview war die zweite Frage, ob ich eine | |
| Geschlechtsumwandlung hatte. What the fuck? | |
| 27 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Hochgesand | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
| Fotografie | |
| Transgender | |
| Drogen | |
| Schwerpunkt LGBTQIA | |
| US-Literatur | |
| Homosexualität | |
| Lesestück Interview | |
| Kinderbuch | |
| Schwerpunkt USA unter Donald Trump | |
| Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
| Regenbogenflagge | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Romandebüt von Ocean Vuong: Arbeitsverbot für „halbe Weiße“ | |
| Patriarchales Vietnam, rassistische USA und die erwachende Sexualität eines | |
| jungen Mannes: Ocean Vuongs „Auf Erden sind wir kurz grandios“. | |
| Debütroman von Garth Greenwell: Komplizierte Wesen im Untergrund | |
| In „Was zu dir gehört“ erzählt Garth Greenwell eine Geschichte schwulen | |
| Begehrens – im postkommunistischen Bulgarien. | |
| Musikerin über die Vulva als Symbol: „Das schließt Transfrauen aus“ | |
| Auch ein Penis könne ein weibliches Genital sein, sagt FaulenzA. Ein | |
| Gespräch über Transweiblichkeiten und die Probleme mit dem Vulva-Kult. | |
| LGBT in Kroatien: Katholische Kirche hasst Regenbogen | |
| Das Kinderbuch „Meine Regenbogenfamilie“ sorgt in Kroatien für einen Eklat. | |
| Der Klerus und „besorgte Bürger“ hetzen dagegen. | |
| US-Gericht gegen Trans-Verbot: Nächste Schlappe für Trump | |
| Das umstrittene Transgender-Verbot in der Armee wurde vom zweiten | |
| US-Gericht abgelehnt. Die Armee muss nun auch die Eingriffe für | |
| Geschlechtsumwandlungen zahlen. | |
| Trans-Aktivisten kritisieren Netflix-Doku: Lang lebe die Königin | |
| Die Netflix-Doku über den Tod der Trans-Ikone Marsha P. Johnson soll ein | |
| Plagiat sein. Sie basiere auf der unbezahlten Arbeit schwarzer Künstler. | |
| Erfinder der Regenbogenflagge gestorben: Der Sichtbar-Macher | |
| Er schuf das Symbol schlechthin für queere Behauptung und Solidarität: die | |
| Regenbogenflagge. Im Alter von 65 Jahren ist Gilbert Baker nun gestorben. |