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# taz.de -- Trans-Aktivisten kritisieren Netflix-Doku: Lang lebe die Königin
> Die Netflix-Doku über den Tod der Trans-Ikone Marsha P. Johnson soll ein
> Plagiat sein. Sie basiere auf der unbezahlten Arbeit schwarzer Künstler.
Bild: Drag Queen Marsha P. Johnson
Reina Gossett schreibt auf Instagram voller Wut: Während sie ihre Miete
nicht bezahlen könne, bediene sich der Regisseur David France für eine
millionendollarschwere Netflix-Doku ihrer Recherche. Vergangene Woche
erschien Frances [1][Film „The Death and Live of Marsha P. Johnson“]
weltweit auf Netflix. Er handelt von der afroamerikanischen trans Ikone
und Aktivistin Marsha P. Johnson. Die Künstlerin und Aktivistin Reina
Gossett arbeitet derzeit ebenfalls an einer Dokumentation über Johnson. Sie
sagt: Der Netflix-Film sei ein Plagiat ihrer eigenen Arbeit.
Bei dieser Beschuldigung geht es um mehr als Urheberschaft: Es geht um die
Frage, inwieweit sich eine weiße Kulturindustrie das Schaffen Schwarzer und
queerer Künstler*innen aneignet und verkauft.
Marsha P. Johnson war eine Vorkämpferin der modernen Gay-Rights-Bewegung.
Als es 1969 in New York zu gewalttätigen Konflikten zwischen Polizei und
Queers kam, war sie eine bedeutende Stimme. 1970 gründete sie gemeinsam mit
Sylvia Rivera die Organisation Street Transvestite Action Revolutionaries
(STAR), die sich für obdachlose queere Jugendliche einsetzte. Sie
engagierte sich in der Aids-Bewegung, wurde von Andy Warhol porträtiert und
war Teil seiner Drag-Performance-Gruppe Hot Peaches.
Die Dokumentation von Regisseur David France konzentriert sich auf die
Bemühungen der Aktivistin Victoria Cruz, die versucht, den Tod Johnsons
aufzuklären, die am 6. Juli 1992 im Hudson River gefunden wurde. Während
Netflix den Film als eine Hommage an Johnson in Zeiten der „beispiellosen
Sichtbarkeit von und der eskalierenden Gewalt gegen die
Transgender-Community“ bewirbt, sah sich France kurz nach der
Veröffentlichung mit schwerwiegenden Anschuldigungen konfrontiert: France
reproduziere genau die Strukturen, gegen die Johnson Zeit ihres Lebens
angekämpft hatte: „Diese Art von Aussaugung/Aushöhlung Schwarzen Lebens,
behinderten Lebens, armen Lebens, trans Lebens ist so alt und so eng
verwoben mit der Art Gewalt, die Marsha Zeit ihres Lebens aushalten
musste“, schreibt Gossett.
Schnell verbreitet sich ihr Statement in den sozialen Medien. Andere
Aktivist*innen wie Janet Mock reagieren schockiert: „Dieses brillante
Schwarze trans Girl hat Material gesucht, archiviert und digitalisiert, das
jahrzehntelang verschüttet war“, schreibt sie auf Twitter. „Mithilfe von
Netflix wurde die Arbeit einer Schwarzen trans Frau über eine Schwarze
trans Frau benutzt, um den Film eines weißen cis Manns zu machen. Während
Reina sich Geld leihen muss, um ihre Miete zu zahlen, schauen
Zuschauer*innen weltweit einen Film, der auf ihrer unbezahlten und
anonymen Arbeit basiert.“
## Erst inmitten der Dreharbeiten erfahren
Gossett wirf France vor, er habe seine Idee für die Doku von ihrem Antrag
auf Filmförderung übernommen, ihre jahrelange Archivarbeit verwendet und
sogar ihre Beraterin Kimberley Reed als Produzentin angeheuert. Gossetts
Film „Happy Birthday, Marsha!“ befindet sich in der Postproduktion, ist
also bald fertig. France bestreitet jedoch auf seiner Facebookseite, dass
es sich um Plagiat handelt. Er und die Macherinnen von „Happy Birthday,
Marsha!“ hätten zufällig gleichzeitig am selben Thema gearbeitet, wovon
France erst inmitten seiner Dreharbeiten erfahren habe. Zum Beweis legte er
dem US-Blog Jezebel seine E-Mail-Korrespondenz von 2009 vor.
Nun steht Aussage gegen Aussage. Doch der Vorwurf reiht sich ein in die
systematische Aneignung der Erfahrungen Schwarzer Queers und People of
Color (PoC) in der Kulturproduktion: Allzu oft wird ihr Überlebenskampf als
Street Credibility vermarktet, werden dem Alltag abgerungene Momente der
Flucht in eine Fantasie von Reichtum und Berühmtheit in warenförmige Codes
überführt.
Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Dokumentation „Paris is burning“
von 1991, für die die Regisseurin Jennie Livingston die Ballroom-Szene der
New Yorker Bronx in den späten 80er Jahren begleitete. In der Folge wurde
sie von einer Reihe ihrer Darstellenden – afroamerikanischen und
hispanischen Schwulen, Drag Queens and trans Frauen – um einen Anteil am
Einspielergebnis von 3.779.620 US-Dollar verklagt. Livingston habe
vorgegeben, lediglich ihre Abschlussarbeit zu filmen, und von der Armut
ihrer Protagonist*innen profitiert. Da alle im Vorfeld ihr Einverständnis
zur Materialverwendung gegeben hatten, mussten sie ihre Klage fallen
lassen.
Gleichzeitig inszenierte sich Madonna auf ihrer „Blond Ambition“-Tournee
1990/1991 als Schöpferin des durch „Paris is burning“ popularisierten
Vogueing – einer in der Ballroomszene entwickelten Kunstform, in der
präzise Model-Posen um Bewegungsmuster aus klassischem Tanz, Modern Jazz
und HipHop erweitert werden. Flankiert von einer Gruppe junger Schwarzer
und Latinx-Tänzer, feierte Madonna sich als Verbündete der Aids-Bewegung
und Vorreiterin von sexueller Offenheit, mitsamt der grenzüberschreitenden
Haltung, mit der manche Frauen an der Sexiness ihrer schwulen besten
Freunde teilzuhaben versuchen (#gaybestie). Im Anschluss verklagten drei
ihrer Tänzer sie um eine finanzielle Beteiligung am Tourneegewinn und – im
Falle von Gabriel Trupin – wegen eines Zwangsoutings. Denn Madonna hatte,
so Trupin, zugesichert, die Bilder eines Kusses mit Salim Gauwloos nicht in
ihrer Doku „Im Bett mit Madonna“ zu zeigen, was sie jedoch tat.
## Fokus auf dem Tod, nicht dem lebenslangen Kampf
Zuletzt profitierte die Hitserie „RuPaul’s Drag Race“ von dem Appeal einer
entrechteten Subkultur. Im Herzen Reality TV, markiert sie das Ende einer
neoliberalen Fahnenstange: Geschichtsvergessenheit macht die zunächst
marginalisierten Ausdrucksformen, deren Dringlichkeit von ökonomischer
Entbehrung und Gewalt bestimmt wird, unpolitisch. Genau diese Dringlichkeit
war es auch, die den Kampf Johnsons und ihrer Mitstreiter*innen gegen
die Hydra von Rassismus, Polizeigewalt und Armut befeuerte.
In diesem Kampf sahen sie sich zunehmend betrogen – von einer mehrheitlich
weißen und wohlhabenden Community von Schwulen und Lesben. Ironischerweise
macht dieser Betrug eine der stärksten Szenen in Frances umstrittener Doku
aus. Diese zeigt Sylvia Rivera, wie sie beim Gay Power March 1973 auf die
Bühne steigt und den Buh-Rufen der Menge entgegenschreit: „Ich wurde
geschlagen. Meine Nase wurde gebrochen. Ich wurde ins Gefängnis geworfen.
Ich habe meinen Job verloren. Ich wurde für Gay Liberation aus meiner
Wohnung geschmissen!“
Abgesehen von ihrem umstrittenen Entstehungskontext zeigt Frances Doku auch
inhaltliche Mängel. Zwar lässt er (im Gegensatz zum komplett weiß
gewaschenen Stonewall-Film von 2015) auch Schwarze Personen und PoC zu Wort
kommen und weist auf die Aktualität von Transfeindlichkeit hin. Dieser
fielen in diesem Jahr in den USA bereits mindestens 21 trans Frauen of
Color zum Opfer. Jedoch fehlt für die Archivaufnahmen Johnsons oft die
notwendige Einordnung in ihren politischen Kontext. Frances verschweigt,
dass Johnson selbst HIV-positiv war. Sein Fokus liegt auf ihrem Tod und
nicht auf ihrem lebenslangen Kampf, was sich auch ästhetisch ausdrückt: So
erinnern Streichermusik und Schnitt eher an beliebte True-Crime-Formate von
Netflix als an die Flamboyanz und Stärke von Marsha P. Johnson.
Die Kontroverse um „The Death and Life of Marsha P. Johnson“ zeigt, dass
sich die Debatte um kulturelle Aneignung im US-amerikanischen Kontext nicht
bloß um symbolische, sondern in erster Linie um ökonomische Aneignung
dreht. Anders als in Deutschland, wo sie häufig gleichbedeutend mit der
Frage ist, ob weiße Menschen Dreadlocks tragen dürfen. Auch hierzulande
sollte mehr diskutiert werden: Wie hängen Codes und Kunst mit
existenziellem Kampf und materieller Entbehrung zusammen? Wer bekommt die
Fördergelder? Wessen Praxis wird zum bloßen Entertainment entpolitisiert?
Die Antworten sind entscheidend dafür, wo genau sich die Übersetzung der
widerständigen Praktiken von Schwarzen Queers und PoCs auf dem Spektrum
zwischen Anerkennung, Aneignung und Ausbeutung bewegt.
17 Oct 2017
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=pADsuuPd79E
## AUTOREN
Eva-Maria Tepest
## TAGS
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