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# taz.de -- Debütroman von Garth Greenwell: Komplizierte Wesen im Untergrund
> In „Was zu dir gehört“ erzählt Garth Greenwell eine Geschichte schwulen
> Begehrens – im postkommunistischen Bulgarien.
Bild: Garth Greenwell weiß, wie Schwule von ihrer Umgebung traumatisiert werde…
Die Latrinen, der Abort, so meinte im 19. Jahrhundert der französische
Poet Théophile Gautier, seien der nützlichste Ort eines Hauses und demnach
auch der hässlichste – gemäß seiner ästhetizistischen „L’art pour
l’art“-Maxime: „Alles, was nützlich ist, ist hässlich.“
Die Latrinen in dem Roman „Was zu dir gehört“, dem Debüt von Garth
Greenwell, geboren 1977 im Bible-Belt-Kentucky, sind ein nützlicher, doch
gewissermaßen auch ein schöner Ort. Denn hier, im Keller des Kulturpalasts
von Sofia, Bulgarien, treffen Mitko und der namenlose Ich-Erzähler
aufeinander. Es ist dies ein Hotspot fürs Cruising, für Männer, die Sex mit
Männern haben oder haben wollen. Und da diese Begegnungen in den Untergrund
verdammt sind, machen sie keinen Halt vor Grenzen der Sozialmilieus, die,
bei Tageslicht besehen, schier unüberwindbar wären. Im Zeitalter von
Sex-Apps wie Grindr fast schon ein archaischer, ein romantischer Ort: das
öffentliche Klo zum Kopulieren.
Einerseits also: Mitko. Der berauschte und berauschende, schlanke, große
bulgarische Junge in seinen frühen Zwanzigern, mit Aggro-Style-kurz
rasiertem Schädel. Andererseits: der Erzähler, autofiktionales Alter Ego
von Garth Greenwell, US-Expat und Dozent am schicken American College of
Sofia, Anfang dreißig, nach außen hin stabil, doch innerlich, so wird sich
zeigen, Scared Gay Kid (um eine Selbstzuschreibung des französischen
Soziologenstars Didier Eribon zu gebrauchen). Die beiden also finden
zueinander, doch auf keine eben ganz gesunde Weise, denn Mitko hat die
Selbstsicherheit und die Sexyness, nach welcher der Erzähler giert; und
dieser hat das Kupfer im Portemonnaie, das Mitko für Alkohol, Drogen und
man weiß nicht wofür noch verprassen wird. Das triste Tauschgeschäft liegt
auf der Hand. Es wird sich zwei Jahre lang, wenn auch unterbrochen,
fortentwickeln.
Doch das ist nur die ernüchterte Lesart des Geschehens. Denn Garth
Greenwell streut beharrlich Hinweise, dass Mitko eben doch mehr für den
Erzähler fühlt als für seine anderen prijateli (Freunde) genannten Freier.
Es macht Greenwells Debüt extra stark, dass er, bei aller (von Daniel
Schreiber perfekt übertragenen) sinnlichen Poesie, wo Weintrauben „noch
warm im Mund […] zerplatzen“, im zweischneidig Ambivalenten lässt, wer hier
eigentlich wen ausnutzt oder gar ausbeutet.
Lost in Translation
Denn beide bringen ja nun mal mit, was zu ihnen gehört: Mitko das
Leberleiden und den Charme und die Chancenlosigkeit eines jungen Mannes aus
einem der ärmsten Länder Europas. Und der Erzähler das emotionale Trauma
eines Fassadenbauers, dem die First-World-Umwelt, die nächste gar, in
Person des Vaters, in frühen Jahren Scham und Schande eingeimpft hat, wegen
seines Schwulseins. Darüber wird mensch im zweiten der drei Teile des
Romans noch viel erfahren, wenn der Erzähler sich, ausgelöst durch eine
Nachricht, dass der homophobe Papa nicht mehr lange zu leben habe, seiner
Vergangenheit und ihrem unheilvollen Verstricktsein mit der Gegenwart
stellen muss.
Greenwell malt den sozialistischen Albtraum eines exsozialistischen
Landes, das vor die Hunde geht und seine wenigen mit kulturellem Kapital
privilegierten, motivierten Menschen in die Flucht treibt. Mitko ist einer,
der seinen einzigen, nur kurzfristig gangbaren Ausweg darin sieht, mit
seinem jugendlichen Körper und Geist auf den Strich zu gehen. Der Erzähler
ist außerordentlich sprachbegabt, doch oft lost in translation, gebraucht
die slawische Sprache, die er zart abtastet und in der er um des Verstehens
willen Analogien sucht im Halbvertrauten. Und doch trägt dieser Verletzte
seine Verletzungen, gemäß Pierre Bourdieus Prinzip der Konservierung von
Gewalt, wenig sensibel weiter, denn er wird Mitko immer wieder aus Gründen
zwischen Selbstschutz und Egoismus abweisen, auch nachdem beide positiv auf
Syphilis getestet wurden und das Antidot nur einem der beiden helfen kann.
Während [1][die FAZ ] den naheliegenden, aber auch unfruchtbaren Vergleich
mit dem französischen Wunderkind Edouard Louis herbeibemüht, um dem
Harvard-diplomierten und am renommierten Iowa Writers’ Workshop geschulten
Greenwell Mängel nachzuweisen, feiert die internationale Presse das 2016
erschienene Original als großen schwulen Roman unserer Zeit (in den
Fußstapfen von Marcel Proust und James Baldwin) oder mindestens als das
beste Debüt dieser Generation.
Das könnte auch falsche Erwartungen wecken. Denn wer hier
mainstreamkompatibles Arthouse wie bei dem gerade völlig zu Recht
oscarprämierten Film „Call Me By Your Name“ erwartet, muss bei „Was zu d…
gehört“ satte Abstriche in Sachen Romantik machen – und dafür faustdick
Sozialrealismus-in-your-Face kassieren können. Der Roman mutet der
Mehrheitsgesellschaft auch die Selbstbefragung zu, was in ihr falsch läuft,
wenn auch zu Zeiten der sogenannten Ehe für alle in Menschen der
berechtigte Verdacht aufkommt, mit „alle“ gar nicht mitgemeint zu sein.
„Was zu dir gehört“ ist erstklassige Literatur darüber, welch kompliziert
verschaltete Wesen wir doch sind, mit Wunden, die die Zeit zurzeit nicht
heilt.
16 Apr 2018
## LINKS
[1] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/gart…
## AUTOREN
Stefan Hochgesand
## TAGS
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