| # taz.de -- Sex im öffentlichen Raum: Goethe als schwuler Code | |
| > Das Literarische Colloquium lud zum dreitägigen queeren Festival rund ums | |
| > Thema Cruising ein. Es ging um weit mehr als schwulen Sex auf Toiletten. | |
| Bild: Cruisen Heten auch? Eher nicht | |
| Spätestens als die Sonne über dem Wannsee untergangen ist am | |
| Donnerstagabend und zwei oder drei Dutzend Menschen auf der Terrasse der | |
| LCB-Villa am Sandwerder Sekt schlürfen und Knabbersachen knabbern, jeweils | |
| aus coronahygienischen Ein-Personen-Knabbersachengläschen, lässt sich der | |
| Gedanke kaum noch verdrängen: Eigentlich wäre dieser Garten hier mit seinen | |
| steil abfallenden Wiesen, seinem dichten Geäst zum See hin, selbst ein | |
| wunderbarer Ort zum Cruisen; der Begriff meint das Lustwandeln im | |
| öffentlichen oder halböffentlichen Raum auf der Suche nach Sex. | |
| Im Grunde hatte das Literarische Colloquium Berlin selbst mit diesem | |
| Gedanken geflirtet und ihn auch forciert, auf seinen flieder- und | |
| pflaumenfarbenen Plakaten zum dreitägigen Festival „Komm in den totgesagten | |
| Park und schau: Cruising als kulturelle Praxis“, auf dem Menschen vieler | |
| Hautfarben in Unterwäsche (wahlweise Büstenhalter, Harness oder Feinripp) | |
| Liebe mit Menschen machen oder Liebe mit Büchern machen oder einander | |
| anschielen, als Zeichen von (sexueller) Neugier – all dies jedenfalls in | |
| einer fantastisch stilisierten Comic-Version des LCB-Gartens. | |
| Ganz so enthemmt wie auf den Plakaten ging es dann am Donnerstagabend, | |
| soweit wir wissen, doch nicht zu im LCB-Garten, aber viel ist geschehen am | |
| Festival-Eröffnungsabend: Nach einem turbulenten „Eröffnungstusch“ der | |
| Schlagzeugerin Friederike Jäger hat Şeyda Kurt (deren Sachbuch-Debüt | |
| „Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist“ es dieses Jahr auf | |
| Platz 4 der Spiegel-Bestsellerliste packte) den Blick aufs Cruising sehr | |
| geweitet. | |
| Viele denken bei dem Begriff ja (falls sie ihn überhaupt kennen und dabei | |
| nicht nur an Luxus-Kreuzfahrten oder Nonsense-Autofahrten denken) an | |
| schwule Männer, die auf öffentlichen Klos bumsen. | |
| Auch Didier Eribon, auf den Şeyda Kurt verweist, hat in seinem fulminanten | |
| Bestseller „Rückkehr nach Reims“ davon geschrieben, dass er selbst seine | |
| schwule Identität auch dadurch ausgebildet habe, dass er sich an | |
| Cruising-Orten mit anderen schwulen Männern zum Sex getroffen habe. Und | |
| auch der Ich-Erzähler in Herta Müllers „Atemschaukel“ (im Grunde der | |
| Lyriker Oskar Pastior) lernt sich selbst kennen durch verboten schwulen Sex | |
| im Park. | |
| ## Erfahrungen, die nicht existieren durften | |
| „Auch ich habe meine erste Bekanntschaft mit Sex und Sexualität im Schutze | |
| der Dunkelheit und Anonymität von Parks und in 1-Euro-Kinos gemacht“, | |
| berichtet Şeyda Kurt, „Ich erfuhr etwas, was nicht existieren durfte: | |
| sexuelle Erfahrungen als junge Tochter meiner Eltern, die das Programm | |
| umschalteten, wenn zwei Menschen sich im Fernsehen küssten.“ | |
| Cruising als ein rebellischer, horizont- und herzerweiternder Akt also, der | |
| nicht nur Schwule betrifft. Şeyda Kurt, die sich mit Cruising in der Türkei | |
| und insbesondere Nordkurdistan beschäftigt hat, liefert auch | |
| stadtsoziologische Thesen: „Parks, Kinos, Theatervorplätze, Cafés […] sind | |
| eigentlich Orte, in denen Körper einer bestimmten bürgerlichen Ordnung | |
| folgen […]. Das Cruisen […] entfremdet diese Orte.“ | |
| Geduldet würde diese Zweckentfremdung, so Şeyda Kurt, aber oft trotzdem von | |
| Polizei und Ordnungsamt und anderen Passierenden: „Weil sich | |
| Dominanzgesellschaften so auch sicher sein können, dass hinter der | |
| unsichtbaren Grenze der einen Wiese wieder die Moral herrscht.“ Doch | |
| Vorsicht: Die Duldung könne jederzeit entzogen werden. | |
| In den vier erfreulich divers besetzten Panels am Freitag und Samstag (die | |
| das Rückgrat des Festivals bilden, aber viel Raum lassen für Konzerte, etwa | |
| vom jungen Jazzer Erik Leuthäuser, Performances, etwa von Hans Unstern und | |
| Tucké Royale, und literarisch „wilden Lesungen“) geht es mit vielen klugen | |
| Wortbeiträgen, etwa von Jayrôme C. Robinet und Hengameh Yaghoobifara (um | |
| nur zwei aus einem Dutzend zu nennen) immer wieder um die Frage, inwiefern | |
| Cruising ein utopischer, emanzipatorischer Akt ist – oder doch eher der | |
| Notlage von Queers geschuldet, da ihre Sexualität oft pathologisiert und | |
| kriminalisiert wird. Die plakative Frage „Cruisen Heten auch?“ müsste dann | |
| wohl mit Nein beantwortet werden. | |
| ## Gothe cruiste in Italien | |
| Historiker:innen heute können auch deshalb gut zu Cruising forschen, | |
| weil es Polizei-Akten dazu gibt. Ein Dilemma. Ist Goethe zum Cruising nach | |
| Italien gefahren? Die Historikerin Veronika Springmann kennt die Antwort | |
| („ja!“), belegt sie zwar nicht mit Polizei-Akten, aber immerhin mit einem | |
| von Goethes „Mignon“-Gedichten. „Reise nach Italien“ galt deshalb im 20. | |
| Jahrhundert als Codephrase schwuler Männer für gegenseitige Onanie. Oha. | |
| Jenseits solcher Fun Facts ist das große Verdienst des Festivals aber, dass | |
| Cruising hier in seiner ästhetischen Qualität, aber auch in seiner sozialen | |
| Relevanz ernstgenommen wird: Wem stehen solche Räume offen? Wer entscheidet | |
| darüber, wer rein darf? Wie formen sich dort Konventionen, Regeln? | |
| Wieso werden auch in queeren Communitys Menschen ausgeschlossen, etwa | |
| Frauen, trans Menschen und Menschen mit Behinderung? Ist Anonymität das | |
| Gegenteil von Intimität? Und ist Dating im Cyberspace die Fortsetzung des | |
| analogen Cruisings, obwohl dort Algorithmen greifen? Und wie ließe sich | |
| literarisch darüber schreiben? | |
| „Komm in den totgesagten Park und schau“, dichtete Stefan George einst. Die | |
| Literatur der Gegenwart übers Cruising – sie könnte eine von Chatfenstern | |
| und Avataren sein. Oder von Menschen sommernachts am Wannsee. | |
| 29 Aug 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Hochgesand | |
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