# taz.de -- 27. Open Mike in Berlin: Mikrobiome und Menstruationsblut | |
> Für den Text „Bambi: Gedichte“ erhält Carla Hegerl den Hauptpreis des | |
> Literaturwettbewerbs Open Mike 2019. Gleich zwei Preise heimst Sina | |
> Ahlers ein. | |
Bild: So sehen Open-Mike-Siegerinnen aus: Sina Ahlers, Fiona Sironic, Carla Heg… | |
Genregrenzen sprengen. Das sagt sich immer so leicht. Auf den Text „Bambi: | |
Gedichte“ von der Berliner Autorin Carla Hegerl aber trifft dieses | |
Qualitätsmerkmal wohl tatsächlich zu: „Möglich ist, dass die Denkbarkeit | |
sog. Junk DNA unter bestimmten Wetterbedingungen für die Route dieses | |
Geländewagens und die Austrocknung des Salar de Uyuni und anderen Kitsch | |
verantwortlich ist usw.“, steigt Hegerl in ihren Text ein, das erste | |
Kapitel heißt: „Take 1. 13.09.2018. 2:11 Uhr“. | |
Mikrobiome treffen darin auf Babytiere am Schauplatz uralter | |
lateinamerikanischer Salzseen. Das Biologiestudium klingt durch, das Hegerl | |
vor der Aufnahme am [1][Institut für Literarisches Schreiben in Leipzig] | |
absolvierte. | |
Für „Bambi: Gedichte“ erhielt Hegerl am Wochenende den Hauptpreis des 27. | |
Open-Mike-Wettbewerbs. Thomas Meinecke, Mitglied der diesjährigen | |
Open-Mike-Jury, betonte, dass die 29-jährige Autorin mit ihren Experimenten | |
aus Form und Inhalt etwas ganz Neues geschaffen habe. | |
Weitere Preise gingen an Fiona Sironic, die einen Auszug aus ihrem | |
Romanprojekt „Das ist der Sommer, in dem das Haus einstürzt“ präsentierte | |
und Sina Ahlers für ihren Text „Originale“. Den taz-Publikumspreis gewann | |
ebenfalls Sina Ahlers. | |
## So viele Frauen wie noch nie | |
Der Open Mike gilt als wichtigster Literatur-Nachwuchswettbewerb im | |
deutschsprachigen Raum, die 15-minütige Lesung während des Finals als | |
Eintrittskarte ins Literaturgeschäft. Aus etwa 600 Einsendungen haben sechs | |
Lektor*innen im Vorfeld 15 Prosatexte und sieben lyrische Arbeiten | |
ausgewählt. | |
Teilnehmen können deutschsprachige Autor*innen, die nicht älter als 35 | |
Jahre sind und noch keine eigene Buchpublikation vorzuweisen haben. Das | |
Auswahlverfahren findet anonymisiert statt und soll damit die Abläufe im | |
Literaturbetrieb simulieren. | |
18 Autorinnen und 4 Autoren schafften es auf die Lesebühne im Heimathafen | |
Neukölln – damit sind es so viele Frauen wie noch nie. Dass der Wettbewerb | |
in diesem Jahr von weiblichen Stimmen eingenommen wurde, beschreibt die | |
Lektorin Susanne Krones von Penguin Hardcover als Erfolg und notwendige | |
Veränderung in der Literaturszene. | |
„Die Feuilletons sind immer noch voll von Männern, die über Bücher von | |
Männern reden. Unsere Auswahl zeigt, was passiert, wenn der ‚weibliche | |
Blick‘ in der Literatur als ‚Normalität‘ angenommen wird. Autorinnen | |
schreiben keineswegs schlechter, im Gegenteil.“ | |
Was die Bezugnahme auf weibliche Körper betrifft, ist in der Literatur | |
[2][in den vergangenen Jahren] vieles sagbar geworden. Politisches wird | |
beim diesjährigen Open Mike hauptsächlich über feministische Themen | |
verhandelt. Körperflüssigkeiten werden beschrieben und vermischt. | |
Ich-Erzähler*innen entsorgten geronnenes Menstruationsblut in silbernen | |
Metalleimern. Ein Gedicht handelt von einer Geburt, die in erster Linie | |
einen Dammriss und Blut hinterlässt. | |
## Politische Texte literarisch gescheitert | |
In der Pressekonferenz vor der Preisverleihung geht es vor allem um die | |
Frage, was das Politische am Schreiben sei – ob Positionierungen dezidiert | |
sein sollten oder die Kunst vielmehr gerade darin bestehe, Inhalte zwischen | |
den Zeilen über eine Schreibhaltung und nicht über Themendropping zu | |
vermitteln. | |
Die dezidiert politischen Texte seien zu plakativ gewesen und literarisch | |
gescheitert, lautet der Konsens der Lektor*innen. Martina Wunderer vom | |
Suhrkamp Verlag berichtet, dass migrantische Perspektiven nicht nur am | |
Wochenende auf der Bühne, sondern insgesamt bei den 600 Einsendungen | |
gefehlt hätten. | |
Dass es nicht um Quoten und Identitätspolitik, sondern um die besten Texte | |
und die objektiven Kriterien guter Literatur gehe, meint dagegen Thomas | |
Wohlfahrt vom Haus für Poesie bei seiner Ansprache vor der Preisverleihung. | |
Die Frage aber bleibt offen, welche Strukturen im Literaturbetrieb dafür | |
sorgen, dass gesellschaftliche Diversität sich diesmal nicht in den | |
Bewerbungen spiegelte. Der Open Mike 2019 war auffällig weiß und wessi, | |
gerade mal ein Finalist kam in einer ostdeutschen Stadt zur Welt, nur eine | |
Finalistin wurde nicht in Deutschland, Österreich oder der Schweiz geboren. | |
## „Ich wollte den Prozess des Erinnerns abbilden“ | |
Neben Meinecke bestand die Jury dabei aus Lyrikerin Uljana Wolf und Clemens | |
Meyer. Mit der taz-Publikumsjury, seit 2007 fester Bestandteil des Open | |
Mike, war sich die Fachjury darin einig, dass der Text von Sina Ahlers | |
herausragte. | |
„Originale“ heißt die Arbeit der gebürtigen Stuttgarterin, es sind sechs | |
Prosafragmente aus Aussagen, Gedanken und Bildern, die sie als | |
„Übersetzungen“ durchnummeriert: „Seit 2010 werden die Winter wärmer.�… | |
„Zum Sterben sinken wir betrunken in Partyküchen zusammen und weinen uns in | |
Unterwelten.“ – „Ob man zu härteren Verstößen neigt, je brutaler die | |
Bestrafung?“ | |
„Ich wollte den Prozess des Erinnerns abbilden“, erklärt Ahlers nach der | |
Preisverleihung. „Und den Schmerz und die Erleichterung darüber darstellen, | |
dass es keine erste Erinnerung gibt, dass das Original immer verschollen | |
bleibt, dass es nur noch Übersetzungen sind, deren ursprüngliche Erfahrung | |
nicht mehr auffindbar ist.“ | |
Wie es mit dem Open Mike genau weitergeht, das steht übrigens noch in den | |
Sternen. Denn die Zusammenarbeit und Förderung durch die Crespo Foundation | |
läuft in diesem Jahr aus. Dass es weitergehen wird, ist laut Thomas | |
Wohlfahrt indes sicher. Im Februar wird für den Open Mike 2020 | |
ausgeschrieben. | |
11 Nov 2019 | |
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## AUTOREN | |
Julia Wasenmüller | |
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