| # taz.de -- 30. Berliner Literaturpreis Open Mike: Es gurgelt im Politikbetrieb | |
| > Der Literaturpreis Open Mike beging am Wochenende seinen 30. Geburtstag. | |
| > Er ist auch Plattform für Texte, die es auf dem Markt schwer haben. | |
| Bild: Alexander Rudolfi, Greta Maria Pichler und Patrick Holzapfel | |
| Auf der Bühne sitzt eine junge, blasse Frau mit langem, blondem Haar. Sie | |
| liest nicht besonders mitreißend aus ihrer Kurzgeschichte „Vaterliebe“. Es | |
| ist Samstagnachmittag, der erste Tag vom Open Mike im Heimathafen im | |
| Berliner Stadtteil Neukölln, und zuerst drehen sich im Zuschauerraum noch | |
| Köpfe, wenn die Tür auf und zu geht, wenn Flaschen fallen oder tatsächlich | |
| eine winzige Maus über den Parkettfußboden huscht. | |
| Aber dann, nach zwei Minuten ungefähr, kehrt Ruhe ein. Es passiert wieder | |
| einmal etwas ganz Unglaubliches beim Open Mike, etwas, das bei dieser | |
| Veranstaltung, die dieses Jahr ihren stolzen 30. Geburtstag feiert, fast | |
| jedes Mal passiert. | |
| Da kommt ein Text wie aus dem Nichts, von einer Autorin namens Lina | |
| Schwenk, von der noch kaum jemand im sogenannten Literaturbetrieb je etwas | |
| gehört hat, die angeblich Ärztin ist und Mutter, aber nicht einmal ihr | |
| Alter preisgibt. Und dieser Text ist so wahnsinnig überraschend, dass viele | |
| sofort am Büchertisch draußen ihren Roman kaufen würden, wenn es denn schon | |
| einen Roman von ihr gäbe. | |
| ## 15 Minuten lang Texte vortragen | |
| Als der [1][Open Mike] vor 30 Jahren von der Literaturwerkstatt Berlin | |
| erdacht wurde, die heute Haus für Poesie heißt, da hätten noch die | |
| wenigsten geglaubt, dass er ziemlich bald neben dem Klagenfurter | |
| Ingeborg-Bachmann-Preis der wichtigste Wettbewerb für Literatur werden | |
| würde. Das Rezept ist so einfach wie einleuchtend: Bewerben dürfen sich nur | |
| deutschsprachige Autor*innen unter 35, die noch kein eigenes Buch | |
| veröffentlicht haben. | |
| Aus den anonymisierten Einsendungen wählen sechs Lektor*innen höchstens | |
| 22 Teilnehmer*innen aus, die bei einer öffentlichen Lesung an zwei | |
| Tagen im November jeweils 15 Minuten ihre Texte vortragen. Die aus | |
| Schriftsteller*innen bestehende Jury wählt bis zu drei Preisträger aus | |
| und vergibt Preisgeld in der Gesamthöhe von 7.500 Euro. Viele wie [2][Karen | |
| Duve], [3][Terézia Mora] oder Kathrin Röggla, die heute jede*r kennt, | |
| haben beim Open Mike angefangen. | |
| Das, was beim Open Mike aber eigentlich am Charmantesten ist: Hier werden | |
| oft Texte bejubelt, die es auf dem Markt eher nicht einfach haben werden. | |
| Da gibt es manchmal formale Spielereien und essayistische Schwenks, bis das | |
| Publikum nicht mehr weiß, was vorn und was hinten ist – und trotzdem | |
| applaudiert es am Ende überschwänglich. | |
| Das hat auch viel mit dem Zuhören zu tun: Viele Texte, die fürs Selberlesen | |
| im Alltag manchmal zu anstrengend sind, leuchten plötzlich geradezu unter | |
| Leuten auf, die streng gucken, wenn man nebenher Nachrichten auf dem Handy | |
| checkt. Da funktioniert der Open Mike ein bisschen wie ein gutes | |
| Filmfestival, wo sich ebenfalls viele, die zu Hause auf dem Sofa am | |
| liebsten Hollywood schauen, plötzlich für subversives Kino aus Indonesien | |
| interessieren. | |
| ## Eine doppelte Überraschung | |
| Lina Schwenks Geschichte „Vaterliebe“ ist daher eine doppelte Überraschung | |
| – denn anders als sehr viele beim diesjährigen Open Mike kommt sie zunächst | |
| einmal ein bisschen konventionell daher. Schwenk erzählt eine Geschichte, | |
| die ungefähr in den nuller Jahren passiert sein könnte, und zwar aus der | |
| Sicht einer Fünfzigjährigen, die zu Schwenks Elterngeneration gehören | |
| könnte, den Kriegskindern also. | |
| Diese Ich-Erzählerin und ihr Mann machen gerade mit dem Wohnmobil Ferien in | |
| Norwegen – und sie haben den Vater des Mannes eingeladen mitzukommen. Als | |
| der alte Mann zur Reise dazustößt, sagt er nicht viel, aber das, was er | |
| sagt, hat große Wirkung. | |
| Überhaupt scheint der Vater die Figur, nach der sich in der Familie alle | |
| immer ausgerichtet haben. In wenigen Worten wird umrissen: Im Krieg ist er | |
| gewesen, den Sohn hat er allein großgezogen. Und noch mehr als die | |
| Einfachheit der Sprache, in der so viel zum Schillern gebracht wird, | |
| verblüfft die Wendung am Ende. Der vermeintlich egozentrische alte Mann | |
| schafft es am Ende, die Familie urplötzlich aus ihrer Verantwortung zu | |
| entlassen. | |
| Und dabei entpuppt sich das, was man am Anfang für konventionell hielt, | |
| eher als entschlackt. Kein überflüssiges Wort, keine verzichtbare Wendung | |
| bei Lina Schwenk, jede Beobachtung ein Schlüssel zur Last, die Beziehungen | |
| sein können: Vom „trüben Plastik“ der Wohnmobilfenster, die den Blick auf | |
| die Natur verwischen, bis hin zu den Bienen, die auf Margeriten sitzen wie | |
| in „kleinen gelben Häusern, voll warmen Staubs“. | |
| ## Seltsame junge Generation | |
| Insofern ist es natürlich total schade, dass Lina Schwenk keinen Preis für | |
| ihre so ungewöhnlich gewöhnliche Geschichte, die sehr lange nachhallt, | |
| gewonnen hat. Aber irgendwie ist es auch ein bisschen egal, und das ist | |
| auch so eine Sache beim Open Mike, der ohne viele postmigrantisch klingende | |
| Autor*innennamen in diesem Jahr immer vielfältig geblieben ist: Hier | |
| gab es schon immer gute und langweilige Texte, die Preise – und ebensolche | |
| Texte, die keine Preise gewonnen haben. | |
| Und auch in diesem Jahr müssen wieder Geschichten und Gedichte dabei sein, | |
| die viel mehr Aufhebens um ihre Sprache veranstalten als die von Lina | |
| Schwenk – und manchmal mehr und manchmal weniger zu erzählen haben: Die | |
| über einen orientierungslosen jungen Mann zwischen einer Marmeladefabrik | |
| und der spanischen Aristokratie von Félix Lucas Ernst zum Beispiel, oder | |
| jene, die so blass ist, dass sie schon fast wieder interessant wirkt, von | |
| Pauline Hatscher – es geht da um so dermaßen mediokre, übervorsichtige | |
| junge Leute, dass sich ältere Leser*innen schon Sorgen machen mögen um | |
| diese seltsame junge Generation. | |
| Ach ja, und dann gab es auch noch diesen einen, experimentellen und | |
| trotzdem vielsagenden Text, den von Patrick Holzapfel mit dem Titel | |
| „Gurgelgeräusche“, der völlig verdient auch einer der Preisträger*innen | |
| wurde. Hier geht es um einen ehemaligen Landwirtschaftsbeauftragten einer | |
| Stadtregierung, der einmal einen ehrgeizigen Tunnel bauen ließ und darüber | |
| irgendwie den Verstand verloren zu haben scheint – jedenfalls quält er sich | |
| seit Jahrzehnten mit einer seltsamen Erkrankung der Kehle. | |
| In einem irren inneren Monolog wie bei Franz Kafka philosophiert er vor | |
| sich hin, dass er eigentlich nie wieder schlucken, aber auch nicht spucken | |
| kann, sondern eben nur noch das Dazwischen beherrscht, das Gurgeln. „Das G | |
| G Geld floss auf die Konten derer, die auch mich zum Essen einluden, ja, | |
| das gebe ich zu, G G Garnelen und G G Gehacktes, bis ich nicht mehr | |
| schlucken konnte.“ Holzapfel schubst seine Zuhörer*innen gekonnt in ein | |
| Wechselbad aus Ekel und Lachreiz. | |
| Die Politik ist ein harter Job. So sehr wie in diesem Text ist einem das | |
| noch selten im Halse stecken geblieben. | |
| 21 Nov 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Open-Mike-Publikumspreisgewinnerin/!5822830 | |
| [2] /Karen-Duves-Sisi-Roman/!5885441 | |
| [3] /Georg-Buechner-Preis-fuer-Terezia-Mora/!5514719 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Messmer | |
| ## TAGS | |
| Berlin | |
| Literatur | |
| Wettbewerb | |
| Lesung | |
| Postmigrantisch | |
| Wien | |
| Literatur | |
| Ingeborg-Bachmann-Preis | |
| Literatur | |
| deutsche Literatur | |
| deutsche Literatur | |
| open mike | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Festivalchef über migrantische Literatur: „Es ist keine Nische“ | |
| Queere Stimmen, Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus in der | |
| Literatur hörbar machen: Kadir Özdemir über „Collecting Dreams“ in | |
| Hannover. | |
| Romandebüt von Patrick Holzapfel: Trost auf Brettern | |
| Bitte hinsetzen: Der Filmkritiker und Gurgelexperte Patrick Holzapfel | |
| erzählt in seinem Debüt „Hermelin auf Bänken“ von einem Bankier besonder… | |
| Art. | |
| Open Mike in Berlin: Heimatsuche im Heimathafen | |
| Beim 31. Open Mike war in Berlin-Neukölln junge Literatur zu hören. Die | |
| Texte kreisen um Tod, Familie und Natur. Und dann ist da noch dieses | |
| seltsame Loch. | |
| Bachmann-Preis 2023: Klassenhass bricht sich Bahn | |
| Beim 47. Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis war alles anders. Mit | |
| Valeria Gordeev wird die Autorin eines sehr sauberen Texts ausgezeichnet. | |
| taz-Publikumspreis Open Mike: Gurgelgeräusche | |
| „Man kann nicht gurgeln in der Politik. Man hat zu schlucken.“ Patrick | |
| Holzapfel geht in einer Geschichte dem Flüssigen im Menschen nach. | |
| Open Mike Publikumspreisgewinnerin: Holzhausen | |
| Die Autorin Laura Anton hat 2021 den taz-Publikumspreis im | |
| Literaturwettbewerb Open Mike gewonnen. Über Enge und Ausweglosigkeit eines | |
| kleinen Kaffs. | |
| Literaturwettbewerb Open Mike als Stream: Geht ein Fremder um die Ecke | |
| Die digitale Form funktionierte beim Literaturwettbewerb Open Mike: Das | |
| Virtuelle lenkte den Blick weg von der Performance hin zu den Texten | |
| selbst. | |
| 27. Open Mike in Berlin: Mikrobiome und Menstruationsblut | |
| Für den Text „Bambi: Gedichte“ erhält Carla Hegerl den Hauptpreis des | |
| Literaturwettbewerbs Open Mike 2019. Gleich zwei Preise heimst Sina Ahlers | |
| ein. |