# taz.de -- Literaturwettbewerb Open Mike als Stream: Geht ein Fremder um die E… | |
> Die digitale Form funktionierte beim Literaturwettbewerb Open Mike: Das | |
> Virtuelle lenkte den Blick weg von der Performance hin zu den Texten | |
> selbst. | |
Bild: Poetische Grammatikfehler: Nail Doğan gewann taz-Publikumspreis und Lyri… | |
Es ist die vergangene Zukunft aus „2001 Odyssee im Weltall“, an die der | |
diesjährige aufgrund von Corona als Stream übertragene Open Mike erinnerte. | |
Denn der Bildübertragung, die in Stanley Kubricks Science-Fiction-Film von | |
1968 auch schon eine Rolle gespielt hatte, fehlte die „Atmo“, jenes stumme, | |
kaum wahrnehmbare Rauschen, das jeder Aufnahme ihre Authentizität verleiht. | |
Stattdessen gab es zwischen den Anmoderationen und den Lesungen des jetzt | |
am Wochenende stattfindenden Wettlesens die absolute Stille des Weltraums | |
wie in Kubricks Film. | |
Aber diese von den äußeren Umständen erzwungene Form hat auch den Blick weg | |
von der Performance und hin zu den Texten selbst gelenkt. Das übliche | |
[1][Gewusel im Heimathafen] in Berlin-Neukölln, dem Veranstaltungsort, war | |
einer Konzentration der Stille gewichen. Auch auf den berühmten Wecker, der | |
jedes Jahr nach 15 Minuten die Lesung der Kandidaten gnadenlos unterbrach, | |
wurde verzichtet: Die Lesung aller Texte hatten die Autorinnen und Autoren | |
vorher selbst als Video aufgenommen. | |
Wie Thomas Wohlfahrt vom organisierenden Haus der Poesie in seiner | |
Einführung sagte, war der Open Mike kurz in Gefahr, nicht stattfinden zu | |
können – der Hauptsponsor hatte seinen Vertrag nicht verlängert. Doch eine | |
„Kollekte“ unter Verlagen und Buchhändlern habe die finanzielle Lücke | |
schließen können. | |
Nicht nur die literarischen Formen, auch die Themen, die die Autoren | |
gewählt hatten, bildeten ein breites Spektrum ab. In der Form am | |
avanciertesten war wohl der Text „Die Reise zum Kap Zizou“ des | |
Autorinnenduos [2][Lynn Takeo Musiol und Eva Tepest]. Einerseits führt die | |
konsequente Umsetzung der politisch korrekten Gender-Sternchens zu einem | |
schwierigen Zugang zu ihrem Text; andererseits ist die ironische | |
Übertreibung Programm der Erzählung. Bis zum Ende bleibt offen, ob die | |
konsequente „Enthierarchisierung“ am Kap Zizou eine Utopie oder Dystopie | |
ist. | |
Rose Engelhardt, die jüngste der Kandidatinnen, beschrieb in | |
melancholisch-poetischem Ton, wie eine Beziehung stufenlos kleingeschrieben | |
wird und schließlich in die Starrheit der Antwortraster von | |
Kreuzworträtseln rutscht. Péter Glück dagegen setzte mit „In diesem Leben�… | |
auf eine Schreibweise, die den Leser zum Zuhörer eines Mannes aus | |
Afghanistan macht. Sein Text von Kindheit und Jugend in einem Tal, von | |
Alltag, Krieg und Tod, ist Teil eines Romanprojekts. | |
## Prosagedicht mit Fußnoten | |
Der Orientalist, der zurzeit in einer Erstaufnahmestelle für Asylsuchende | |
arbeitet, entfernte sich wohl am weitesten von allen Autorinnen und Autoren | |
von der eigenen Wirklichkeit und wandte sich dem Fremden zu. Ein auch in | |
der Wahl seiner schlichten Schreibweise überzeugender Text. Ganz anders | |
wiederum Daniel Jurjew, der in „Borges und Eis“ vom argentinischen Autor im | |
Keller einer Eisdiele erzählte, als Hommage, mit leichter Hand und in der | |
Art des magischen Realismus. | |
Ungewöhnlich dann wieder „Dorn, Stäbe, Bügel (Erzählungsrückseite)“ von | |
Frieda Paris, ein Prosagedicht, das Zitate bekannter Dichterinnen auf ganz | |
eigene Art nahtlos mit Fußnoten und Quellennachweisen in die Beschreibung | |
eines Gefängnisbesuchs einflocht. | |
Nail Doğan gewann am Ende dann mit seinen von Wortweglassungen und | |
poetischen Grammatikfehlern geprägten Gedichten sowohl den Publikumspreis | |
der taz als auch den Lyrikpreis des Open Mike. Juror Peter Waterhouse | |
meinte: „In diesen Gedichten [sind] nicht so sehr die Bedeutungen im | |
Spiel“, sondern „das Spiel selbst“, das hier „endlich im Spiel ist“. | |
Gleichzeitig aber engagiert sich Doğan auch mit seiner Lyrik: „Geht ein | |
Fremder um die Ecke/ ist nach hundert Jahren noch/ immer fremd“. | |
## Prekäres Leben mit der Mutter | |
In der Kategorie für Prosa gewann die Schweizerin Rebecca Gisler für ihren | |
Text „Hippobosca“ einen Preis. Darin geht es um eine Ich-Erzählerin, die am | |
Meer irgendwo in Frankreich ihren gebrechlichen, von ihr gepflegten Onkel | |
sucht. Andeutungen an die Kindheit sind hier unmerklich eingeflochten, | |
während der Horror am Ende abrupt in die Erzählung einbricht. Beides | |
beschäftigt den Leser noch lange. Gleichzeitig wird auf unaufdringliche | |
Weise das ganze Elend von Gebrechlichkeit und Pflege deutlich. | |
Die zweite Erzählung, die prämiert wurde, war „MIRMAR“ von Josefine Soppa. | |
Eine Tochter erzählt hier von ihrem prekären Leben mit der Mutter. Dann | |
wird die Mutter für „das Programm“ ausgewählt für ein Leben unter Palmen | |
und ist für sie nur noch per Telefon und Videostream zu erreichen. Es | |
bleibt offen, ob es sich um einen Urlaubsort handelt oder um eine | |
Isolation. | |
Eines ist sicher, um die Vielfalt, Produktivität und damit der Zukunft der | |
deutschsprachigen Literatur muss man sich nach diesem Open Mike keine | |
Sorgen machen. Das zeigten nicht nur die prämierten Autorinnen und Autoren, | |
sondern viele der Kandidatinnen und Kandidaten. Man darf gespannt sein, was | |
als Nächstes von ihnen zu lesen sein wird. | |
10 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Open-Mike-im-Heimathafen/!5548676 | |
[2] /Fehlende-Diversitaet-im-Theater/!5691967 | |
## AUTOREN | |
Fokke Joel | |
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