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# taz.de -- Erzählungen von Clarice Lispector: Ein Gramm Radium
> Die Moderne hat Freiheit und Unfreiheit zugleich gebracht. Davon erzählt
> „Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“ von Clarice Lispector.
Bild: Clarice Lispector bei der Arbeit
Im Werk der brasilianischen Autorin Clarice Lispector drücken sich die
Widersprüche und Aporien der Moderne aus. Die Frauen, aus deren Perspektive
sie schreibt, ringen mit den Zwängen, die ihnen Männer und Gesellschaft
auferlegen, gleichzeitig aber auch mit der Freiheit, die ihnen die Moderne
gebracht hat.
Lispectors gesammelte Erzählungen, die jetzt in einem ersten Band
vorliegen, sind von derart zerrissenen Charakteren geprägt. Immer wieder
stehen die Verunsicherung, die Ambivalenz der Gefühle im Zentrum.
Lispector erzählt von ihrer Suche nach dem Sinn des Lebens und von dem
Scheitern dieser Suche.
Ihren Protagonistinnen wird meist der Boden unter den Füßen weggezogen; sie
sind „transzendental obdachlos“, wie es Georg Lukács für den Roman der
Moderne formuliert hat. Oft bricht in ihre Welt, wie bei den
existenzialistischen Autoren, das Gefühl des Absurden herein.
Die große Kunst der 1920 geborenen und 1977 früh an Krebs gestorbenen
brasilianischen Autorin besteht darin, all diese Widersprüche und Fragen
anhand „einfacher“ Frauenschicksale zu erzählen. In „Obsession“, einer
ihrer ersten Erzählungen von 1940, wächst die namenlose Ich-Erzählerin in
einfachen Verhältnissen sorglos und glücklich auf.
Früh, mit 19 Jahren, heiratet sie Jamie. „Sechs Jahre lebten wir zusammen,
ohne Kinder. Und ich war glücklich.“ Doch immer wieder verdüsterte ihr
„eine grundlose Melancholie das Gesicht, erfasste mich eine matte und
unbegreifliche Sehnsucht nach nie erlebten Zeiten“.
Die Erzählerin erkrankt schwer an Fleckfieber und entgeht nur mit knapper
Not dem Tod. Zur Rekonvaleszenz wird sie in einen Badeort ans Meer
geschickt, wo sie Daniel kennenlernt, der das Gegenteil des netten,
fürsorglichen Jamie ist. In Diskussionen vertritt er provokante Positionen,
stellt sich der gesellschaftlichen Moral entgegen und kennt nur ein Ziel:
die Selbstverwirklichung.
Gegenüber der Erzählerin, die sofort von seiner Unabhängigkeit fasziniert
ist, verhält er sich arrogant und ablehnend, ja, er demütigt sie. „Wie ich
ihn bewunderte. Je mehr ich an seiner Geringschätzung litt, desto mehr
betrachtete ich ihn als überlegen und hob ihn von ‚anderen‘ ab.“
Es ist nicht nur die Lust an der Unterwerfung, die Lispector in „Obsession“
interessiert; es ist auch nicht allein die Wirklichkeit des misogynen
Machos, die sie in aller Deutlichkeit schildert; es die existenzielle
Erfahrung, die Erfahrung der Freiheit, die die Erzählerin fasziniert. Eine
Freiheit, die widersprüchlich ist, denn sie entzieht Daniel immer mehr den
Boden unter den Füßen.
Im traditionell geprägten Dasein der Erzählerin hatten alle Dinge ihren
Platz – jetzt steht alles infrage. Als die Beziehung zu Daniel endet, wird
diese Verunsicherung dem Leben gegenüber zu einem Teil von ihr selbst. Im
Rückblick verzeiht sie ihm, verzeiht denen alles, „die sich nicht zu binden
wissen, denen, die sich Fragen stellen. Die nach Gründen dafür suchen, zu
leben, als rechtfertige sich das Leben nicht selbst.“
## Hinrichtung durch 13 Polizeikugeln
„Obsession“ enthält im Grunde alles, was auch in den anderen Erzählungen
Lispectors wichtig ist. Das gilt auch für das poetologische Programm: „Ich
werde mich bemühen, nicht anzuklagen“, heißt es am Anfang. „Es ist einfach
passiert.“
Das Faszinierende an Lispectors Texten ist, dass sie einerseits keinen
Zweifel an der Fragwürdigkeit der Haltungen und Handlungen ihrer Figuren
lässt, andererseits ihre Sympathie für sie nie ganz aufkündigt. Selbst für
einen Mörder nicht, dessen Hinrichtung durch 13 Polizeikugeln sie in
„Mineirinho“ kritisiert.
Hier erinnert sie daran, dass in uns allen „etwas“ ist, „das in uns so
intensiv und so lauter ist wie ein gefährliches Gramm Radium, dieses Etwas
ist ein Lebenskorn, das, wenn man es zertritt, zu etwas Bedrohlichem wird –
zertretener Liebe; dieses Etwas, das in Mineirinho zum Dolch wurde“.
Das Gebot nicht zu töten, schreibt sie, gelte auch für den Henker, der „in
der Stunde, da er tötet, nicht mehr uns beschützt, ja noch nicht einmal
darauf aus ist, einen Verbrecher auszuschalten, (…) vielmehr [begehe] er
sein eigenes, lange unter Verschluss gehaltenes Verbrechen. In der Stunde,
in der ein Verbrecher getötet wird – in diesem Augenblick stirbt ein
Unschuldiger von fremder Hand.“ Ein Text, der ihr in Brasilien, wo die
Todesstrafe erst 1988 abgeschafft wurde, nicht nur Freunde gebracht hat.
Clarice Lispectors Texte sind von ihren eigenen Erfahrungen geprägt. Es
sind die Erfahrungen einer Frau, aber auch einer Migrantin. Als Lispector
zwei Jahre alt war, zog sie mit ihren Eltern aus der Ukraine nach
Brasilien. Ihr Vater und ihre Mutter sprachen nur Jiddisch; sie war die
Erste in der Familie, die Portugiesisch lernte. Ihre Erzählungen sind
Ausdruck dieser radikalen Veränderungen.
Aber sie sagen nicht nur Migranten etwas. Denn auch für Nichtmigranten ist
die Welt nach der Infragestellung von Religion und Tradition zwar freier,
aber gleichzeitig – mit ihrer transzendentalen Unsicherheit – auch unfreier
geworden.
26 Jan 2020
## AUTOREN
Fokke Joel
## TAGS
Brasilien
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Roman
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