Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Brasilianische Autorin Clarice Lispector: Wie ein Glühwürmchen
> Die Texte der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector sind
> scharfkantig. Schockartig taucht in dem Band „Ich und Jimmy“ etwas Wildes
> auf.
Bild: Sie scherte sich den Teufel um einen klaren Plot: Clarice Lispector
Frau Jorge ist es satt, ein menschliches Wesen zu sein, aber an ihrem
Spiegelbild hat sie auch keine Freude, weil sie aussieht wie ein anonymes
Huhn. Miss Algrave besteigt ihre Badewanne aus Frömmigkeit nur in
Unterwäsche; doch als ein Abgeordneter des Saturn sie im Bett besucht und
streichelt, fühlt sie sich, „als schleudere ein Krüppel seine Krücken in
die Luft“.
Eine alte Frau hat Geburtstag; die Familie rückt mit Juchei an. Der
fürsorgliche Enkel will dem Omalein verbieten, Wein zu trinken, und die
Alte fragt sich, warum eine starke Frau wie sie derartig trübe Wesen
geboren hat. Als sie den Kuchen anschneidet, hält sie das Messer wie eine
Mörderin. Kinder und Kindeskinder treten mit den Tellern an und sie denkt:
Bald bekommt jeder sein Schäufelchen Erde.
[1][Clarice Lispector] (1920–1977) schrieb eine hellsichtige, sarkastische
und dann wieder zarte, traumtänzerische Prosa, die verführt und irritiert.
Die Autorin wurde als jüdisches Kind „kleiner Leute“ in der heutigen
Ukraine geboren. Gleich nach ihrer Geburt floh die Familie vor
antisemitischen Pogromen und landete in Brasilien.
## Schon zu Lebzeiten eine Legende
Die Einwanderung wurde für Clarice zu einer Erfolgsgeschichte: Sie
studierte Jura, arbeitete als Journalistin und veröffentlichte ihre ersten
[2][literarischen Texte]. Sie heiratete einen Diplomaten und führte
phasenweise ein mondänes Leben zwischen Rio, Neapel, Bern und Washington.
Sie bekam zwei Kinder, ließ sich scheiden; sie übersetzte, schrieb weiter
Kolumnen und Stories. Schon zu Lebzeiten galt sie als Legende und wurde mit
Virginia Woolf oder Katherine Mansfield verglichen.
Die Heldinnen ihrer Texte sind entweder fest verwurzelt in der
traditionellen bürgerlichen brasilianischen Gesellschaft oder steigen durch
Eheschließung in diese Schicht auf. Aber sie bleiben ungefestigte,
instabile Gemüter – das traute Heim und die treusorgenden Gatten lassen
Wünsche offen. Eine Frau sagt sich, „als Mann wäre ich Bankier geworden“;
eine andere führt ein Doppelleben als Hausfrau und Stripteasetänzerin.
Lispector schreibt keine vorbildlichen Emanzipationsgeschichten, die aus
dem goldenen Käfig in ein selbstbestimmtes Leben führen. Wenn es Ausbrüche
gibt, enden sie oft gerade einmal in einem Schönheitssalon – oder der
doppeldeutige Ausdruck „sich das Leben nehmen“ wird zu einer Option.
Der Band „Ich und Jimmy“ versammelt Texte aus allen Arbeitsphasen und zeigt
eine sperrige Autorin, die nach heutigen Maßstäben politisch inkorrekt
schreibt. Eine Autorin, die keine Identifikationsangebote macht und sich
den Teufel um eine klare Komposition und einen nachvollziehbaren Plot
schert. Wer hier nach Orientierung sucht, könnte sich auch auf Glühwürmchen
verlassen.
## Himmlisch und höllisch
Die Texte brechen häufig aus der Wirklichkeit aus, aber man kann sie nicht
mit dem ohnehin strapazierten Begriff des lateinamerikanischen „magischen
Realismus“ fassen. Und doch wissen sie etwas von weltimmanentem Zauber, von
Grenzüberschreitung. Schockartig taucht hier etwas Wildes, Widersetzliches,
auch Monströses auf, ob es nun himmlisch oder höllisch ist.
Lispector war keine orthodoxe Jüdin, und viele ihrer Figuren sind reichlich
undogmatische Katholiken. Wenn sie nach Transzendenz suchen, werden sie
ketzerisch: Eine Frau sieht sich als Muttergottes und liebkost den
Allmächtigen wie ein Kind – leider erweist er sich als grober Klotz.
In dieser Prosa krachen säuberlich getrennte Gegensätze wie das Gute und
das Böse, Liebe und Hass, Banales und Ekstatisches, Lust und Schmerz,
Glaube und Wissen oft in einem einzigen Satz gegeneinander. Eine Frau ist
neugierig und gelangweilt zugleich. Die nächste fragt sich, wie sie
gleichzeitig Mehl essen und pfeifen kann.
Lispectors Texte sind handlungsarm, doch expressiv; sie haben die
Faszination von Rohdiamanten und sind entsprechend scharfkantig. Die
Boshaftigkeit und Grausamkeit einiger Figuren sollen offensichtlich
konsternieren, und das Widersprüchliche kreischt einen hier manchmal
geradezu an. Die Autorin wurde oft als moderne, gottlose Mystikerin
bezeichnet und gefiel sich wohl auch in der Rolle der Sphinx. Ihre
unbändige, poetische Prosa gibt Rätsel auf und hallt lange nach. Denn
Lispector will die Dinge nicht einleuchtend machen, sie lässt sie vielmehr
leuchten.
21 May 2022
## LINKS
[1] /Clarice-Lispector-Autorin-aus-Brasilien/!5730629
[2] /Erzaehlungen-von-Clarice-Lispector/!5656163
## AUTOREN
Sabine Peters
## TAGS
Erzählungen
Literatur
Brasilien
Prosa
Brasilien
zeitgenössische Kunst
Literatur
Brasilien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Roman über homosexuelle Liebe: Alligatoren nach dem Essen
Unter der brasilianischen Sonne: Victor Heringer beschäftigt sich in „Die
Liebe vereinzelter Männer“ intensiv mit dem Verlust der ersten (queeren)
Liebe.
Ausstellung über Zärtlichkeit: Erzählende Teekessel
Erstmals bespielt Adam Budak als neuer Direktor der Kestner-Gesellschaft
das Haus selbst – und tut das mit einer ambitionierten Ausstellung.
Clarice Lispector, Autorin aus Brasilien: Die hässlichen Seiten des Lebens
Ein neuer Band mit Erzählungen von Clarice Lispector lässt ihre Modernität
erkennen. Am 10. Dezember vor 100 Jahren wurde sie geboren.
Erzählungen von Clarice Lispector: Ein Gramm Radium
Die Moderne hat Freiheit und Unfreiheit zugleich gebracht. Davon erzählt
„Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“ von Clarice Lispector.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.