# taz.de -- Schriftsteller über nomadische Literatur: „Ich lebe aus dem Koff… | |
> Der Autor Eduardo Halfon über seinen jüngsten Roman „Duell“, seine | |
> Kindheit in Guatemala und das überholte Konzept einer Nationalliteratur. | |
Bild: Eduardo Halfons Erzählungen sind biografisch geprägt von der Gewalt in … | |
taz am wochenende: Herr Halfon, aktuell leben Sie in Paris. Was machen Sie | |
dort? | |
Eduardo Halfon: Seit September sind wir in Paris. Dank eines Stipendiums | |
der Columbia University kann ich hier bis Juni an meinem neuen Buch | |
arbeiten. Ich bin zusammen mit meiner Frau und meinem dreijährigen Sohn | |
hergekommen. Bei unserer Ankunft haben wir zuerst den Kindergarten gesucht, | |
dann in der Nähe eine Wohnung. Mein Büro liegt auch um die Ecke. Unser | |
Leben hier hat also wenig mit dem romantischen Bild von Paris zu tun. Wir | |
bewegen uns viel in unserem Viertel und machen alles zu Fuß. Von den | |
Streiks in der Stadt sind wir kaum betroffen. | |
Nach dem Erfolg ihres Romans [1][„Der polnische Boxer“] führten Sie | |
Stipendien und Gastprofessuren an verschiedene Orte der Welt. Sind Sie ein | |
Schriftsteller ohne festen Wohnsitz? | |
Ja, ich lebe sozusagen halb aus dem Koffer. Einige Zeit waren wir in | |
Spanien, dann gingen wir nach Guatemala, anschließend haben wir acht Jahre | |
in Nebraska gewohnt. Aber das war nicht geplant, es hat sich so ergeben. | |
Jetzt sind wir als Familie hier in Paris. Was danach kommt, wissen wir noch | |
nicht. Für einen Schriftsteller ist das Reisen ja relativ einfach. Ich | |
nehme meine Sachen mit und arbeite, wo auch immer. | |
Geboren wurden Sie 1971 in Guatemala-Stadt. Vor dem Terror und der Gewalt | |
in den 1980er Jahren emigrierten Sie als Zehnjähriger mit Ihrer Familie in | |
die USA. Nach einem Ingenieursstudium kehrten Sie nach Guatemala zurück und | |
begannen dort auf Spanisch zu schreiben. Können Sie Ihr Verhältnis zu dem | |
zentralamerikanischen Land und der Sprache beschreiben? | |
Es ist kompliziert, in vielen meinen Bücher versuche ich, das in Worte zu | |
fassen. Mit zehn Jahren habe ich Guatemala verlassen. Die Umstellung auf | |
das Leben in den USA war als Kind damals einfach. Schwieriger wurde für | |
mich nach dem Studium die Rückkehr nach Guatemala. Das Englische hatte sich | |
bei mir als erste Sprache durchgesetzt. Ich traf auf ein Land, das ich | |
nicht mehr kannte, eine Sprache, die ich kaum noch sprach, und mit einem | |
Beruf, der nicht wirklich meiner war. Als Ingenieur wollte ich nicht | |
arbeiten. Das war der Beginn einer sehr frustrierenden Periode, in der ich | |
versuchte, mich wieder im Land einzuleben und Fuß zu fassen. Dieser Prozess | |
dauerte fünf oder sechs Jahre. Das ging überhaupt nicht schnell. Erst mit | |
fast dreißig Jahren habe ich dann durch Zufall für mich die Literatur | |
entdeckt. | |
Wie drückt sich diese Erfahrung literarisch aus? | |
Meine Beziehung zu Guatemala ist immer kompliziert gewesen – schon seit | |
meiner frühen Kindheit. Ich lebte in einer katholischen dominierten | |
Gesellschaft in einer jüdischen Familie. Alle Feiertage des Schuljahrs sind | |
katholisch. Die werden von den Familien deiner Freunde gefeiert, nur von | |
deiner nicht. Du gehörst nicht dazu, bist irgendwie fehl am Platz. Dann | |
verlasse ich Guatemala auch physisch und beginne das Land von außen zu | |
betrachten. Aber ich kehre zurück und entdecke dort die Literatur. Das hat | |
sicher viel damit zu tun, warum ich auf Spanisch schreibe. Doch ich bleibe | |
nicht in Guatemala, verbringe eine weitere Dekade außerhalb des Landes. | |
Beim Schreiben findet meine Annäherung an Guatemala immer von außen statt. | |
Ich denke diese Perspektive nimmt man als Leser wahr. | |
Auf Spanisch zu schreiben, hat das mit Identität zu tun? | |
Ich glaube, es hat eher mit Kindheit zu tun, mit den ersten zehn Jahren. | |
Ich denke dieser Lebensabschnitt hat für jeden von uns fundamentale | |
Bedeutung. In meinen Büchern kehre ich immer wieder dahin zurück, zu | |
Situationen mit meinen Großeltern oder der Beziehung zu meinem Bruder. Das | |
ist keine Nostalgie. Das Spanische ist die Sprache meiner Kindheit. | |
In „Duell“, Ihrem jüngsten Roman, kommt der Protagonist, Señor Halfon, in | |
ein guatemaltekisches Dorf am See Amatitlán, zum ehemaligen Ferienhaus | |
der Großeltern. Was passiert auf dieser Reise? | |
Eduardo Halfon kehrt an den See seiner Kindheit zurück, auf der Suche nach | |
etwas. Er will seine falsche Erinnerung verstehen. Das denkt er zumindest. | |
Und hier beginnt das Buch über die Erinnerung an ein ertrunkenes Kind. Es | |
vereint drei historische Momente. Einer handelt vom jugendlichen Halfon in | |
den USA, der zu verstehen beginnt, dass seine Erinnerung nicht stimmt. Und | |
es gibt die Kindheit selbst, in den 1970er Jahren, dort in einer fast | |
idyllischen Landschaft mit See, die sich nun in etwas Totes verwandelt hat. | |
Am Ende findet der Erzähler etwas anderes, als er erwartet hatte. Das ist | |
vielleicht eine Konstante in all meinen Erzählungen. | |
Der Ausflug des Erzählers wird auch zu einer Reise in die Geschichte der | |
Familie. Einige Episoden und Figuren daraus kennen Ihre Leser bereits aus | |
früheren Veröffentlichungen. Was verbindet die unterschiedlichen | |
Erzählstränge miteinander? | |
Manche Details, Figuren oder Themen aus früheren Erzählungen greife ich | |
wieder auf. Ich glaube, dass meine Bücher sich nach und nach zusammenfügen | |
– fast so, als würde ich nur an einem einzigen großen Buch schreiben. | |
Welchen Titel würde Sie denn diesem einen Roman geben? | |
Das ist eine exzellente Frage, weil sie den Kern dieses Projekts berührt. | |
Vielleicht erinnern Sie sich, dass die deutsche Ausgabe von „Der polnische | |
Boxer“ auch die Erzählung „La Pirueta“ enthielt. In Spanien wurde sie | |
getrennt veröffentlicht. Und in der deutschen Übersetzung von „Signor | |
Hoffman“ ist auch „El Monasterio“ enthalten – ursprünglich ein eigenes | |
Buch. „Duell“, ein kurzer Roman, ist, wie ich es mir gewünscht habe, | |
separat erschienen. Aber Sie können die Bücher zusammenfügen. Das ist | |
machbar und vielleicht auch ratsam. Doch um Ihre Frage abschließend | |
beantworten zu können, müssen wir abwarten. Ich bin dabei, mein neues Buch | |
zu beenden. Und nach wie vor bewege ich mich in diesem Universum mit einem | |
Erzähler, der meinen Namen trägt. Aber das bin ich nicht. | |
Was haben Familienanekdoten, Kindheitserinnerungen und Literatur gemeinsam? | |
Sie haben nichts gemeinsam, sind aber innig miteinander verbunden. Ich | |
glaube, Literatur ist das beste Vehikel für die Erinnerung. Erinnerung ist | |
keine Tatsache, nichts Festes. Sie wächst, wird kleiner, verändert sich. | |
Literatur ist etwas Außergewöhnliches. Sie erlaubt dir, dieses Spiel | |
auszudrücken. | |
Statt den Ursprung seiner Erinnerung an den angeblich jung ertrunkenen | |
Onkel Salomon zu ergründen, erfährt der Erzähler in „Duell“ vom Schicksal | |
der vielen anderen am See tot aufgefundenen Kinder: „… und alle hießen sie | |
Salomon.“ Der Name bedeutet Frieden. Nach den Jahren der Gewalt in | |
Guatemala, wie beurteilen Sie die heutige Situation im Land? | |
Düster und bedrohlich. Was die Zukunft Guatemalas angeht, bin ich überhaupt | |
nicht optimistisch. Das Land erlebt einen äußerst dunklen Moment, aber den | |
schon seit vielen Jahren. Mit umfassender Korruption, totaler | |
Straflosigkeit und jeder Art von Gewalt. Von kleinerem Straßenraub über | |
Bandenkriminalität der Maras bis zu politischer und militärischer Gewalt. | |
Eine extreme Armut, die wächst. Guatemala hat die höchste | |
Kindersterblichkeit in Lateinamerika und einen sehr hohen Analphabetismus. | |
Es gibt keine Schulen, keine Bildung, keine Infrastruktur. Gleichzeitig ist | |
es ein reiches Land, aber mit einer Konzentration dieses Reichtums. Die | |
Armut nimmt zu, der Reichtum nimmt zu und die Korruption auch. Wie ändert | |
man das? Ich weiß es nicht. Mein Blick von außen auf diese Situation ist | |
weit davon entfernt, Frieden zu erkennen. | |
Kommendes Wochenende werden Sie an den Litprom- Literaturtagen in Frankfurt | |
am Main teilnehmen. Dort soll über die Bedeutung von Heimat und Herkunft in | |
der zeitgenössischen Literatur diskutiert werden. Autoren wie Sie, ohne | |
festen Wohnsitz, oder SchriftstellerInnen, wie etwa die Mexikanerin Valeria | |
Luiselli, die ihre literarische Sprache wechseln, widersprechen der | |
Vorstellung einer Nationalliteratur? Was sind Ihre Erfahrungen? | |
Ich denke, die Idee einer Nationalliteratur ist eine Chimäre. Die Nation | |
ist das, was du dafür hältst – eine Sprache, Grenzen, eine Identität, eine | |
Religion. Aber es ist ein Gespenst. Betrachtet man heute die | |
lateinamerikanische Literatur, dann vereint uns nicht unbedingt eine Region | |
und eine Sprache. Da ist zum Beispiel Daniel Alarcón, der in den USA lebt | |
und auf Englisch schreibt. Genauso wie Junot Díaz. Valeria Luiselli lebt | |
außerhalb, ich bin auch woanders. Sehr viele leben nicht mehr in | |
Lateinamerika oder kommen und gehen. Etwas verbindet uns als | |
Lateinamerikaner, doch ich weiß nicht genau, was es ist. | |
21 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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