| # taz.de -- Buch über Mara-Gangs in Zentralamerika: Leben eines Auftragskillers | |
| > Die Gewalt der Maras vertreibt Familien. „Man nannte ihn El Niño de | |
| > Hollywood“ der Brüdern Oscar und Juan José Martínez erzählt, wer die | |
| > Maras sind. | |
| Bild: Ein Mitglied der Mara Salvatrucha | |
| Fragt man Geflüchtete aus Honduras oder El Salvador, warum sie ihre Heimat | |
| verlassen haben, bekommt man häufig dieselbe Antwort: „Wegen den Maras.“ | |
| Väter gehen mit ihren Söhnen, weil sie Angst haben, dass ihre Kinder von | |
| den kriminellen Jugendbanden rekrutiert oder getötet werden. | |
| Ganze Familien nehmen [1][den beschwerlichen Weg Richtung Mexiko oder USA | |
| auf sich], weil sie die alltägliche Gewalt der Maras in ihren Stadtvierteln | |
| nicht mehr ertragen. Wer aber sind diese jungen Männer, deren Gesichter oft | |
| von Tattoos gezeichnet sind? | |
| Diese Jugendlichen, die keine Skrupel zu kennen scheinen? Wer sind die | |
| „Mara Salvatrucha 13“ und die „Barrio 18“, die sich gegenseitig in | |
| mittelamerikanischen Gefängnissen bis aufs Blut bekämpfen? | |
| Die Brüder Oscar und Juan José Martínez geben eine Antwort. Fast drei Jahre | |
| lang besuchten die Autoren „El Niño de Hollywood“, wie Miguel Ángel Tobar | |
| genannt wurde, in seinem Haus in der salvadorianischen Provinz. Besser | |
| gesagt: in seinem Gefängnis. Denn der Mann, der in seinem kurzen Leben über | |
| 50 Menschen ermordete, hat gegen seine „Homies“, seine ehemaligen Kumpels | |
| der Mara Salvatrucha 13 ausgesagt. | |
| Deshalb befand er sich in einem Zeugenschutzprogramm und verbrachte die | |
| letzten Jahre seines Lebens mit seiner 17-jährigen Freundin und der kleinen | |
| Tochter auf einem bewachten Grundstück. Gegenüber lag eine Dienststelle der | |
| Polizei. Jeder Schritt außerhalb der Parzelle konnte für den Mittzwanziger | |
| tödlich sein. Tatsächlich stirbt Tobar schließlich den Tod eines Verräters. | |
| Er wird von Killern der Mara Salvatrucha 13, der MS13, erschossen. | |
| ## Der Blick eines Mörders | |
| Obwohl die Autoren dieses Ende eines elendigen Lebens gleich zu Anfang | |
| vorwegnehmen, bleibt ihr Buch „Man nannte ihn El Niño de Hollywood“ | |
| durchgehend spannend. Atmosphärisch und detailliert beschreiben sie entlang | |
| ihres Protagonisten, wie sich die Maras zu den gefährlichsten Banden | |
| entwickeln konnten. | |
| Neben Tobar treffen sie viele weitere Menschen, die in diesem mörderischen | |
| Szenario eine Rolle spielen. Etwa mit dem Polizisten Gil Pineda, der an die | |
| hundert Killer verhaftet hat. Auch El Niño. „Seit ich ihn kenne, hat der | |
| den Blick eines Mörders“, sagt der Inspektor, der selbst gerne zuschlägt, | |
| wenn es sein muss. | |
| Dieser von Gewalt geprägte Alltag in einem Land, das zu den gefährlichsten | |
| weltweit zählt, lässt Leute wie Tobar zu dem werden, was sie wurden. Um das | |
| zu verstehen, stellen die Autoren das Elend ihres Protagonisten in den | |
| historischen Kontext El Salvadors. | |
| Sie schreiben über die Ausbeutung von Landarbeitern auf den Kaffeeplantagen | |
| Anfang des 20. Jahrhunderts, über die Politik der harten Hand gegen die | |
| Jugendlichen sowie den früheren Bürgerkrieg zwischen der FMLN-Guerilla und | |
| dem US-unterstützten Militärregime samt dessen Todesschwadronen. Und über | |
| die vielen Landsleute, die wegen dieses Krieges in die Vereinigten Staaten | |
| migriert sind. | |
| Dort, in Los Angeles, beginnt auch die Geschichte, die Tobars Leben prägen | |
| sollte, obwohl er selbst nie in der Stadt war und „Hollywood“ immer | |
| „Jaliwú“ aussprach. Denn in den Bandenkriegen in der kalifornischen | |
| Metropole entstanden die Maras. | |
| Die Salvadorianer konnten sich in den Kämpfen durchsetzen. „Sie waren aus | |
| dem Krieg gekommen und hatten keinerlei Bedenken, sich in einen anderen zu | |
| stürzen“, schreiben die Autoren und zitieren einen Marero, der die 1980er | |
| Jahre miterlebt hat: „Die da oben in Kalifornien dachten, sie wüssten, was | |
| Gewalt ist. Fuck, no, wir haben ihnen beigebracht, was Gewalt ist.“ | |
| ## Krebse für die Mittagssuppe | |
| Die Maras wandten Methoden an, die bereits Eliteeinheiten des | |
| US-Präsidenten Ronald Reagan in El Salvador eingesetzt hatten, erklären die | |
| Brüder Martínez. Sie verschweigen aber nicht, dass so mancher sein blutiges | |
| Handwerk auch bei der Guerilla gelernt hatte. Viele Salvadorianer, die aus | |
| den USA abgeschoben wurden, brachten die Marakultur später in ihre alte | |
| mittelamerikanische Heimat. Ausgespuckt von den Vereinigten Staaten, trugen | |
| sie den Krieg in den 1990ern dorthin, wo er seinen Anfang nahm. | |
| Es ist die Zeit, in der „El Niño“ noch ein Kind ist und mit der Machete im | |
| Anblick seiner Freunde am Fluss einen Jungen killt, weil dieser Witze über | |
| ihn macht. Die Leiche lassen sie achtlos liegen und fangen weiter Krebse | |
| für die Mittagssuppe. „Sie wussten, dass niemand den Toten vermissen | |
| würde“, schreiben die Autoren. „Sie waren die Kinder von niemandem.“ | |
| Sie wurden gedemütigt, waren Brüder vergewaltigter Mädchen, Söhne von | |
| Alkoholikern, Nomaden. Abfall. Menschen, die unter diesen Umständen | |
| aufwachsen, erklären sie, hätten nur die Wahl, nichts oder ein Teil von | |
| etwas zu sein. | |
| Es ist die Suche nach einem Zuhause, nach einer wirklichen Familie, die | |
| Jugendliche zu den Maras treibt: die Bande als Identifikation, der Krieg | |
| gegen die anderen als Sinnstiftung. Was nichts daran ändert, dass es | |
| Hintermänner gibt, die von den kriminellen Geschäften profitieren. | |
| Man könnte sich keine kompetenteren Autoren als die Brüder Martínez für | |
| dieses Thema denken. Oscar hat auf der salvadorianischen Onlineplattform | |
| „ElFaro.net“ und in internationalen Zeitungen preisgekrönte Reportagen üb… | |
| die gewaltsamen Verhältnisse in seinem Land veröffentlicht. Juan José hat | |
| als Anthropologe über Jahre hinweg über das Phänomen der Banden geforscht. | |
| Sie kennen viele Miguel Ángel Tobars. | |
| Jahre nach seinen Mord am Fluss tritt Tobar der MS13 bei. 13 Sekunden lang | |
| muss er dafür die Schläge und Fußtritte ertragen. Dann ist er einer von | |
| ihnen. Ab diesem Moment killt er für die Salvatrucha. Und er ist ein guter | |
| Mörder, wie Inspektor Pineda bestätigt: „Fast immer, wenn er getötet hat, | |
| hat er dem Opfer in den Kopf geschossen.“ Die Autoren lassen „El Niño“ v… | |
| all den Morden erzählen, an denen er beteiligt war. | |
| ## Etwas „Raubtierhaftes“ im Blick | |
| Von der Prostituierten, von der er bis heute nicht weiß, warum er sie töten | |
| sollte. Oder von dem Typen, der den feindlichen „18ern“, dem Barrio 18, | |
| angehörte und Drogen und Geld dabei hatte. „Popp, popp, popp, popp … So, | |
| siehst du, aus zwei Metern direkt in die Birne, hab sogar Spritzer | |
| abgekriegt von dem Arschloch“, erzählt Miguel Ángel. | |
| Der junge Mann hatte seine eigene Sprache, um seinen Job darzustellen. | |
| Wirft er jemand in den Brunnen, hat er ihn „zum Wassertrinken geschickt“. | |
| Begräbt er jemand auf dem Acker, tot oder lebendig, hat er ihn „zum | |
| Sternezählen hingelegt“. Und immer, wenn er seinen beiden Zuhörern erzählt, | |
| wie er jemand umbringt, macht er dieses dumpfe knallende Geräusch: popp, | |
| popp. | |
| Ja, die Geschichte, die Oscar und Juan José Martínez erzählen, ist äußerst | |
| brutal. Sie beschreibt einen Menschen, dessen Leben im Wesentlichen daraus | |
| bestand, andere zu töten. Dennoch zeichnen die Autoren nicht nur das Bild | |
| eines skrupellosen Mörders. | |
| Ebenso wenig versuchen sie, El Niño de Hollywood in erster Linie als Opfer | |
| der Verhältnisse darzustellen. Sie lassen Tobar selbst sprechen und | |
| schaffen mit Informationen, Sachlichkeit und beobachtender journalistischer | |
| Distanz ein Bild, das das Elend dieses Mannes ohne Mitleid zum Ausdruck | |
| bringt. | |
| Trotzdem halten sie sich mit Einordnungen nicht zurück. Zum Beispiel, wenn | |
| sie in dem jungen Killer etwas „Raubtierhaftes“ erkennen: „Wenn es blutig | |
| wird in seinem Bericht – und es wird immer blutig –, verändern sich seine | |
| Augen, seine Haltung, sein Gesichtsausdruck.“ | |
| In anderen Momenten beschreiben sie El Niño, der in seiner Karriere auch | |
| mal „El payaso“, der Clown, hieß, als einen eingesperrten, verzweifelten | |
| und abgemagerten Mann, der auf seinem Plastikstuhl sitzt und an einem Joint | |
| zieht. Kein Tiger im Käfig, sondern einer, der darauf wartet, dass die | |
| alten Homies kommen, um ihn hinzurichten. Niemand werde ihm verzeihen, dass | |
| er die wichtigsten Männer der Mara Salvatrucha 13 ans Messer geliefert | |
| habe. | |
| Er weiß genau, wie das läuft. Popp, popp, popp. Trotzdem will er nicht | |
| unvorbereitet sein. Neben sein Bett hat er deshalb griffbereit eine | |
| Handgranate gelegt. Sie hat ihn nicht gerettet. | |
| 13 Jan 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Wolf-Dieter Vogel | |
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