# taz.de -- Hugo Pratts Comic-Held „Corto Maltese“: Flaneur der Weltmeere | |
> Mehr Roman als Comic – „Corto Maltese“ erneuerte ein ganzes Genre. Jetzt | |
> erscheint der Klassiker in einer deutschen Neuausgabe. | |
Bild: Die farbige Ausgabe verleiht Pratts Zeichnungen und Szenarien eine zusät… | |
Schon sein erster Auftritt ist ambivalent. Der Südseekapitän Corto Maltese | |
treibt an ein Holzkreuz gebunden im Pazifik, um von einem Piratenboot | |
aufgelesen zu werden. Lange Zeit weiß man nicht, was man von dem | |
dunkelhaarigen Beau halten soll – ist er ein Heiliger, wurde er für eine | |
Vergewaltigung bestraft oder ist er das unschuldige Opfer einer Meuterei? | |
Kapitänsmütze und -uniform trägt er auch, wenn er Sibirien auf dem Landwege | |
bereist. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts treibt er sich in entlegenen | |
Winkeln der Welt umher, dort wo Goldschätze locken oder Kriege satte | |
Verdienstmöglichkeiten verheißen. | |
Trotz der Exotik der Schauplätze romantisieren die Comics um Corto Maltese | |
nicht das Abenteuer. Man lernt Kriegsgewinnler und ihre dreckigen Geschäfte | |
kennen. Und selbst Pratts Held und Protagonist arbeitet mit skrupellosen | |
Verbrechern zusammen. Der Italiener Hugo Pratt (1927–1995) erfand und | |
zeichnete diese für erwachsene LeserInnen bestimmten Comics. | |
In der „Südseeballade“ von 1967 ist Corto Maltese zunächst nur einer von | |
vielen undurchsichtigen Charakteren, die vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs | |
in der Südsee zu schnellem Reichtum kommen wollen. Sie überfallen | |
holländische Kohleschiffe und verkaufen deren Fracht an die Deutschen | |
weiter, die damals einen Teil des Pazifiks beherrschten (Deutsch-Neuguinea) | |
und sich für den nahenden „Großen Krieg“ rüsteten. | |
Anführer der Piraten ist der „Mönch“. In eine Mönchskutte gekleidet, das | |
Gesicht verdeckt, beherrscht er schon seit Generationen die Region, so die | |
Legende. „Rasputin“ heißt Corto Malteses Konkurrent, ein finsterer Mörder, | |
der dem obskuren Wanderprediger am Hofe Zar Nikolaus II. nachempfunden ist. | |
Hugo Pratt vermischt historische Hintergründe mit Abenteuerfiktion, | |
Traumsequenzen, Elementen aus Mythen und Märchen, die die Leser immer | |
wieder in die Irre führen und zugleich faszinieren sollen. Pratt selbst war | |
eine schillernde Persönlichkeit. Er wuchs in Venedig auf und zog später mit | |
seinen Eltern ins italienisch besetzte Abessinien. Sein nationalistisch | |
gesinnter Vater steckte den gerade Vierzehnjährigen in ein Schutzbataillon | |
gegen die aufständische Bevölkerung. | |
## Epische Geschichten ohne klare Helden | |
Wo hören die Fakten über sein Leben auf, wo beginnen die Legenden? So viel | |
ist sicher: Hugo Pratt begann 1945 Comics zu zeichnen. 1948 lockte ihn das | |
Angebot eines Verlegers nach Argentinien, wo er seinen eigenen, von Milton | |
Caniffs Abenteuerstrip „Terry and the Pirates“ beeinflussten Stil in | |
zahlreichen realitätsnahen Western-, Kriegs- und Abenteuerreihen | |
weiterentwickelte. | |
Zurück in Italien, wurde 1967 die neue Comiczeitschrift „Sgt. Kirk“ | |
gestartet, benannt nach einem von Pratts populären Westernhelden. Bereits | |
in deren erster Ausgabe begann die „Südseeballade“, ein Fortsetzungscomic, | |
der erst 1969 beendet wurde. In dieser Erzählung fehlte der übliche | |
Serienheld, mit dem sich die Leser identifizieren sollten. | |
Es war ein Novum, eine solch epische, sich über 163 Seiten erstreckende | |
Comicgeschichte ohne klaren Helden zu erzählen. Die „Südseeballade“ | |
entsprach ihrer Struktur nach mehr einem Roman als dem bislang üblichen | |
Comicformat mit einem Umfang von 48 Seiten. | |
Doch Hugo Pratt griff ab 1970 die Figur des Corto Maltese für das | |
französische Comicmagazin „Pif“ erneut auf, die Erzählungen führten fort… | |
rund um den Erdball, Afrika, Amazonien, Irland oder Sibirien. Erst 1975 | |
wurde die „Südseeballade“ als Album in Frankreich veröffentlicht. Durch | |
Umfang und narrative Komplexität gilt sie als erster Comic-Roman. Sie | |
beeinflusste die Gründung des literarisch orientierten Comic-Magazins (A | |
suivre), in dem Künstler wie Jacques Tardi oder François Bourgeon | |
veröffentlichten. | |
Pratt hatte den Prototyp für eine Erzählform geschaffen, die heute oftmals | |
als Graphic Novel firmiert. Anspruchsvolle Comicerzählungen ohne | |
festgelegte Seitenlänge und mit literarischer Tiefe. In der „Corto | |
Maltese“-Reihe hat sich Pratt an den vielschichtigen Klassikern des | |
Abenteuerromans orientiert – Herman Melville, Joseph Conrad oder Jack | |
London (der wie andere reale historische Figuren selbst in Pratts Comics | |
auftritt). | |
Dabei gönnt Pratt seinem Helden wie seinen LeserInnen durchaus Momente der | |
Kontemplation, lässt ihn sich in Thomas Morus’ „Utopia“ versenken oder | |
lenkt seinen Blick zum Meer, zum Horizont. Durch seinen unverwechselbar | |
expressiven, auch poetischen Zeichenstil – kontrastreiche | |
Tuschezeichnungen, die ihre Motive oft zeichenhaft verdichten – hat Pratt | |
einen modernen Autoren-Comic geschaffen, der Schule machte und Zeichner wie | |
José Muñoz und Didier Comès beeinflusste. | |
Die insgesamt 12 Bände um Corto Maltese ergeben in ihrer Gesamtheit den | |
vielschichtigen Lebensroman eines freiheitsliebenden Abenteurers, der nur | |
vorgeblich auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. In Wahrheit steht er | |
jedoch für humanistische Werte wie Toleranz und Gerechtigkeit, für die er | |
sein Leben aufs Spiel setzt. Pratt ist ein meisterhafter Erzähler, der | |
literarische Anspielungen und ein immenses historisches, geografisches und | |
ethnologisches Wissen in die Abenteuer eingeflochten hat. | |
Das Besondere an der neuen deutschen Werkausgabe ist nun die Herausgabe der | |
Bände in zwei unterschiedlichen Versionen. Die originale | |
Schwarz-Weiß-Fassung lässt Pratts elegante Tuschezeichnungen voll zur | |
Geltung kommen und dürfte vor allem Puristen ansprechen. Die von seiner | |
langjährigen Mitarbeiterin Patrizia Zanotti kolorierte farbige Ausgabe | |
verleiht in ihrer feinen Aquarellierung Pratts Zeichnungen und Szenarien | |
jedoch eine zusätzliche, exotischere Dimension. | |
25 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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