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# taz.de -- Horrortrip als Comic: Sex ist der Auslöser
> Wer traut schon den Erwachsenen? Comic-Autor Charles Burns vermengt
> Geschichten von Punk über Burroughs und Hergés „Tim und Struppi“.
Bild: Schräges Erwachen – oder vielleicht doch alles ein Traum?
In „Der geheimnisvolle Stern“, dem neunten Band aus Hergés Comic „Tim und
Struppi“, verwischen Traum und Realität. Held Tim sieht sich konfrontiert
mit geisterhaften Propheten der Apokalypse und bizarren rot-weißen Pilzen,
die im Zeitraffer auf einem abgestürzten Kometen im Atlantik wachsen.
Der gefeierte amerikanische Zeichner und Coming-of-Age-Autor Charles Burns
bedient sich in seiner jüngsten Graphic Novel ausgiebig an Hergés Werk. In
der Trilogie „X“, „Die Kolonie“ und „Zuckerschädel“, zwischen 2012…
erschienen, ersetzt er die außerirdischen Pilze aus „Tim und Struppi“ durch
rot-weiße Eier.
Der Fund dieser allegorischen Eier durch Burns’ Antihelden Doug, der dem
Vorbild Hergés auch zeichnerisch nachempfunden ist, bildet den Nukleus
einer Geschichte, die Burns’ bisheriges Hauptwerk „Black Hole“ beträchtl…
erweitert. Sie handelt vom Ende der Kindheit durch den moralischen
Imperativ der Vaterschaft. Bereits in einem früheren Interview stellte der
1955 geborene Burns fest, er „vertraue Erwachsenen nicht wirklich.“
Burns’ Kunst entsteht seit jeher an der Kreuzung von Fiktion und
Erinnerung. Dementsprechend greift er auch diesmal auf autobiografische
Fragmente seiner Jugend zurück. Das Punkmilieu der Spätsiebziger dient ihm
dabei als Handlungsrahmen. Wanderten beim grandiosen Teenager-Porträt
„Black Hole“ noch diverse Protagonisten durch eine surreale Welt,
fokussiert die „X“-Serie jetzt allerdings auf die albtraumhaft wirkende
Realität eines einzelnen.
## Im Spiegellabyrinth
Indes vereinen sich in der Figur des Doug gleich mehrere Erzählebenen. So
ist er der bettlägerige Twentysomething, der im elterlichen Kellergeschoss
mit Hilfe von Betäubungsmitteln sich vor einer unbegreiflich schrecklichen
Wahrheit in schizophrene Zwischenräume flüchtet.
Er ist aber auch Johnny, ein Arbeiter mit Erinnerungs- und
Bewusstseinslücken in einer Science-Fiction-Wüstenwelt, in der Frauen als
Bienenköniginnen zwangsrekrutiert werden. Und er ist der den
Beat-Schriftsteller William S. Burroughs verehrende Möchtegernkünstler
Nitnit – das Palindrom des französischen Namens des Hergé-Protagonisten
Tintin (deutsch: Tim). Und er ist der um sechs Jahre gealterte Doug, der
immer mehr zum Wiedergänger des verstorbenen Vaters wird und sich
schließlich mit dem Verdrängten auseinandersetzen muss.
Diese unterschiedlichen Ebenen verwebt Burns auf überaus intelligente
Weise, indem er peu à peu Analogien innerhalb der Erzählung freilegt.
Vergangenheit und Gegenwart werden unaufhörlich synchronisiert. Der kranke
Vater Dougs etwa taucht plötzlich in der Wüstenstadt auf. Was hat es mit
den bizarren Schweineföten auf sich, die sich in Dougs schizophrene
Wahrnehmung einschleichen? Geschichte um Geschichte wird klarer, dass sich
der (Anti-)Held in einem selbst geschaffenen Spiegellabyrinth befindet.
Wachzustand, Schlaf, Wahn und Momente der Klarheit ergeben ein Puzzle mit
der Frage: „Wovor flieht Doug, und was hat seine Freundin Sarah damit zu
tun?“
Zeichnerisch kombiniert Burns den schnörkellosen Hergé-Stil mit dem der
nordamerikanischen Horrorcomics der 1950er. Die leeren schwarzen Bilder zu
Beginn gleichen Dougs langsamem Augenöffnen, das auch ein Sich-Öffnen vor
der Wahrheit zu sein scheint. Oftmals verzichtet Burns völlig auf
Sprechblasen oder innere Monologe. Dann spricht allein die flächige
Zeichnung, die geschickt zwischen Abstraktion und konkretem Detail
wechselt.
## Popkulturelle Hinweise
Wie bereits „Black Hole“ enthält die „X“-Trilogie zahlreiche popkultur…
Fingerzeige: auf William S. Burroughs, Patti Smith oder Lucas Samaras.
Burns überträgt den Zeitgeist der früheren Punkära geschickt in die
Gegenwart seiner Figuren. Hochsymbolisch auch die verschiedenen
Querverweise, die der Autor in die Novelle einbaut, etwa auch zur Serie
„Femme Maison“ der Bildhauerin Louise Bourgeois.
Dessen ungeachtet verliert sich der Zeichner zu keinem Zeitpunkt in der
Metaebene, weil er seinem Leitmotiv absolut treu bleibt. Man weiß
schließlich um Burns’ ausgeprägte Neigung zum Thema Adoleszenz.
Transformation und Selbstverwirklichung, Dazugehörigkeit und
Ausgestoßensein, Verdrängung und Offenbarung sind die gegensätzlichen
Pfeiler seines Repertoires.
Sex ist in „Black Hole“ der Auslöser von merkwürdigen Mutationen unter
Teenagern, Sex ist auch in der „X“-Reihe Auslöser von körperlichen
Entfremdungserfahrungen.
Gleichermaßen auf der Flucht wie auf der Suche nach Erkenntnis
durchschreitet Burns’ Figur Doug die Tiefen seines Bewusstseins.
Am Ende dieses Tals gelingt Burns eine der präzisesten kulturellen
Darstellungen von männlicher Subjektivität und Verstrickung überhaupt. Weit
über das Erwachsenen-Comicgenre Graphic Novel hinaus manifestiert sich „X“
damit als Vision einer postmodernen Erzählkunst, die ihre Werkzeuge zur
Charakterdarstellung auf bestechende Art einzusetzen weiß.-
20 Sep 2015
## AUTOREN
Matthias Manthe
## TAGS
Comic
Erwachsen werden
Sex
Graphic Novel
Comic
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