# taz.de -- Comics der Weltklasse: Das Spiel des Überlebens | |
> Zeina Abirached besucht in Bremen eine kleine Schau ihrer Graphic Novels | |
> in Schwarz-Weiß. In deren Zentrum lauern, unsichtbar, der Krieg und das | |
> Grauen. | |
Bild: Gehe über Ost-Beirut: Zeina Abirached hat die Fluchtgeschichte ihrer Fam… | |
Doch, doch, sie ist ein Star, in Frankreich aber nicht nur dort: Dass Zeina | |
Abirached am 25. 11. nach Bremen kommt, um ihren neuesten Comic | |
vorzustellen, ist eine kleine Sensation. Für dessen [1][Vorabpublikation] | |
hatte sich Le Monde die Rechte gesichert. Ihre Werke [2][rezensiert] | |
mittlerweile auch die New York Times. Schon als sie 2013 ihr sechstes Album | |
vorlegte, fand das auf der Titelseite des Wochenmagazins L‘Express statt – | |
dem französischen Pendant von Der Spiegel: In Frankreich ist die Kunst der | |
Bande Dessinée als Teil des kulturellen Erbes nun mal fast so anerkannt wie | |
in Japan. Weshalb dort auch so viel und so großartige Comic-Kunst gedeiht. | |
Seit Philippe Wellnitz das Bremer Institut Français leitet, breitet das | |
diesen besonderen Reichtum konsequent aus: Zur Jazzmesse „Jazzahead!“ | |
zeigte man Mathilde Ramadiers „Rêves syncopés“, eine grafische Erkundung | |
der Electro-Szene, im Oktober war Youngster Cyrille Pomès zu Gast, der mit | |
dem Orientalisten Jean-Pierre Filiu „La Dame de Damas“ verfasst hat, das im | |
heutigen Syrien spielt. | |
Und nun also zeigt das Institut die atemberaubenden Werke der | |
französisch-libanesischen Künstlerin Zeina Abirached. Noch bis 23. 11. | |
hängen dort 40 Drucke aus den autobiografischen Bänden „Je me souviens“, | |
also „[3][Ich erinnere mich]“, und „Mourir, partir, revenir – le jeu des | |
hirondelles“ (auf Deutsch: „[4][Das Spiel der Schwalben]“), die im | |
geteilten Beirut des Bürgerkriegs der 1980er-Jahre spielen. | |
Am Mittwoch weichen sie dann Bildern aus Abiracheds vor zwei Monaten | |
erschienenen „Piano Oriental“. In dem greift sie mit ihren starken und | |
harmonisch-gerundeten Linien erstmals weit über die eigene Kindheit hinaus | |
in die Vergangenheit, in eine Zeit vor der Verwüstung Beiruts. Sie erzählt | |
die Geschichte ihres Urgroßvaters Abdallah Kamanja. Der ist in den | |
1950er-Jahren ein Bahnangestellter. Er schwänzt aber seine Bürostunden, um | |
das „Piano Oriental“ zu entwickeln. | |
Das ist mal ein Projekt: Die Geschichte der Tasteninstrumente ist exklusiv | |
westlich. Abdallah nun baut ein Klavier so um, dass es orientalische Musik | |
mit ihren Vierteltönen produzieren kann. Er muss die Oktave also in 24 | |
Tonschritte unterteilen. Dabei besteht die doch nur aus 19 Tasten, sieben | |
weißen und zwölf schwarzen. | |
Schwarz und Weiß: Das ist auch eine ästhetische Grundsatz-Entscheidung. | |
Abirached entwickelt meisterhaft Motive, Themen und nicht zuletzt Komik aus | |
solchen Selbstbeschränkungen: In einer der ersten Szenen von „Ich erinnere | |
mich“ liest die Mutter ihren zwei Kindern ein Bilderbuch vor. Es trägt den | |
Titel: „Ich lerne die Farben“. | |
Im Gegenzug stehen die comictypischen Kästchen, die Panels, stets in | |
organischer Verbindung mit den Bildgegenständen: Der Rahmen kann sich | |
einerseits gleichsam in sie hinein öffnen, umgekehrt vermag aus jeder | |
Lampenständerlinie eine Grenze zu erwachsen, unüberwindlich und tödlich wie | |
die historische zwischen Ost- und West-Beirut: „Ich erinnere mich an meine | |
Ungläubigkeit“, schildert Abirached eine Nachkriegserfahrung, „dass die | |
Straße gegenüber, die zehn Jahre lang zur anderen Seite gehört hatte … auch | |
Rue Youssef Semaani hieß“: Die Mitte der Straße war [5][ein Todesstreifen.] | |
Schon in „Das Spiel der Schwalben“ hatte Abirached die Spielräume ihrer | |
Figuren radikal begrenzt: Alles ereignet sich in einem fensterlosen | |
Vestibül. Auf das hat der Bürgerkrieg im Lauf der 1980er-Jahre die üppige | |
Beiruter Wohnung geschrumpft: Die monadische Diele ist ihr einziger | |
sicherer Raum. Doch wie in einem belebten Spiegel drückt sich in ihr die | |
gesamte Welt aus: Abirached fokussiert dafür auf die Mit-Insassen, erzählt | |
deren Schicksale und imaginiert ihre Lage – etwa die von Farah und Ramzi, | |
dem Paar aus der Wohnung einen Stock höher, das bei Gefechten hierher | |
flüchtet. | |
Farah ist schwanger. Die zwei sitzen auf gepackten Koffern: Sie haben | |
Verwandte in Kanada. Da wollen sie hin. Schnell. Aber die Papiere sind noch | |
nicht da. Diese quälende Situation bannt Abirached in ein herzzerreißend | |
lustiges Bild: Sie zeigt die zwei im Ehebett. Farah schläft. Ramzi grübelt: | |
Soll er den Bart zudecken? Oder nicht? “… drunter?“, fragt er, „drüber… | |
Oder „drunter?“ Über sieben Panels treibt Abirached ihn fast in den | |
Wahnsinn, zwei Seiten lang. | |
Auf dem Nachttisch platziert sie Lektüre-Hinweise: Einen Hergé-Band – denn | |
aus dem Tim-und-Struppi-Album „Kohle an Bord“ stammt die Idee für diese | |
Gedankenfolter. Und unterm Comic liegt Jack Kerouac, „On the Road“, der | |
romangewordene Schrei nach Freiheit, Aufbruch, Abenteuer. | |
Klein ist die Bremer Schau. Und fast schon dürftig wirkt die Vitrine, in | |
der bloß die Originalausgabe von „Je me souviens“ liegt. Und mitunter | |
verliert sich durch die Hängung die für Comic so wichtige Sequenzialität. | |
Aber die Vereinzelung der Drucke begünstigt den Blick auf die | |
Kompositionen. | |
Schon beim Schwalben-Album hatte L‘Express-Kritiker Julien Bisson die | |
[6][Verwandtschaft] von Abiracheds Kunst mit der artistischen Literatur | |
Georges Perecs bemerkt. „Für dessen Werk interessiere ich mich schon | |
lange“, bestätigt Abirached. Dessen 1976 erschienenes gleichnamiges Buch | |
hat sie als Schreibprogramm für ihren „Je me souviens“-Comic genutzt: Eine | |
Hommage, die am geheimen Grund dieses Werks rührt. | |
Oft wird Perecs Buch nur als Nostalgiespiel rezipiert. Doch ist es | |
durchzogen von cachierten Holocaust-Reminiszenzen. Beispielsweise erinnert | |
er sich „an die Sixdays im Vél’ d‘hiver“: Die gab’s auf der Pariser | |
Fahrradrennbahn. Doch war die 1942 auch zentraler Sammelpunkt für [7][zur | |
Deportation bestimmter Juden] wie Perecs Mutter. Deren Ermordung durch die | |
Nazis wird nie erwähnt. Und doch handelt das Buch ständig von ihr. Aber nur | |
wer weiß, dass Cécile Perecs Totenschein auf den 11. 2. 43 datiert wurde, | |
merkt, dass der 243. „Je me souviens“-Satz: „Ich erinnere mich an die 121… | |
außer auf einen berühmten, von 11 mal 11 Intellektuellen | |
[8][unterzeichneten Aufruf zur Desertion im Algerienkrieg] ganz beiläufig | |
auch auf Auschwitz verweist. | |
„Ich zeige nicht das Grauen“, bekennt sich auch Abirached zu einer Poetik | |
der Auslassung: „Der Krieg bleibt jenseits des Rahmens“, sagt sie. „Ich | |
streiche um ihn herum“: In der Rekonstruktion des naiven Blicks wird der | |
schreckliche Rhythmus von Flucht, Rückkehr, Exil und neuer Rückkehr, den | |
die Familie durchlebt, zum Brettspiel, banal, aber nie harmlos: Zu spielen | |
ist ja eine Frage des Überlebens. Und die Würfel sind gefallen. | |
19 Nov 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.lemonde.fr/livres/visuel/2015/07/13/bande-dessine-le-piano-orien… | |
[2] http://www.nytimes.com/2012/11/14/books/a-game-for-swallows-by-zeina-abirac… | |
[3] http://www.avant-verlag.de/comic/ich_erinnere_mich | |
[4] http://www.avant-verlag.de/comic/das_spiel_der_schwalben | |
[5] http://www.zeit.de/1989/35/krieg-den-kirchen-und-minaretten/komplettansicht | |
[6] http://www.lexpress.fr/culture/livre/zeina-abirached_813223.html | |
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Rafle_du_V%C3%A9lodrome_d%E2%80%99Hiver | |
[8] http://www.liberation.fr/cahier-special/1998/01/12/algerie-manifeste-des-12… | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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