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# taz.de -- Vom TV ins Theater: Wir sind die Anderen
> Alexander Giesches Performance "Lost" behandelt eher Form als Inhalt der
> gleichnamigen Fernseh-Erfolgsserie. Eine verblüffende Inszenierung.
Bild: Auf der giftgrünen Insel geht einiges schief. Aber mit Absicht.
BREMEN taz | Es hätte wieder schief gehen können mit Alexander Maximilian
Giesches Bühnenadaption der TV-Serie Lost. Wie das Recherchecamp im
Dezember, als der Regisseur und Artist in Residence am Theater Bremen und
sein Team tagelang im Theaterfoyer kampierten, um vor laufender Webcam alle
134 Folgen der Vorlage am Stück zu sehen. Nach fünf Staffeln haben sie
abgebrochen, fühlten sich körperlich überfordert und waren desorientiert in
der verwickelten Handlung. Sie hatten sich mitten auf der Zielgeraden
verirrt.
Nach diesem Scheitern ist das Stück nun auf der Bühne und hat sich dort
noch viel mehr vorgenommen, als die Vorlage nur nachzuvollziehen. Nicht die
Handlung, sondern die Form – die Serie und ihre Bewegungsgesetze – ist das
Thema der Performance. Dazu der große Name: "Lost" ist eine der
beliebtesten Serien der Fernsehgeschichte, und es scheint unmöglich, nicht
entweder ihre Fans oder den klassischen Kulturbetrieb vor den Kopf zu
stoßen.
## Eine giftgrüne Insel
Aber: Diese "Lost"-Performance ist mehr als geglückt. Die Spielfläche ist
ein giftgrüner Kreis. Das Publikum sitzt in Armeslänge auf Campinghockern
drumherum. Das alles findet im Bühnenraum des Kleinen Hauses statt, die
leeren Ränge verweisen auf ein fehlendes Außen. Wer den Blick über das
Geschehen wandern lässt, landet immer wieder beim gegenüber sitzenden
Publikum und wird dabei auch selbst beobachtet.
Gelegenheiten für solches Abschweifen gibt es reichlich, denn Nadia
Fistarols genialer Bühnenaufbau blockiert vorsätzlich die Sicht: Vier
Hindernisse umkreisen die Bühne und kommen in regelmäßigen Abständen vorbei
gefahren. Einige sind durchsichtig und verfälschen das Bild nur. Aber weil
sie unterschiedlich schnell laufen, überlagern sie einander gelegentlich
und dann ist kaum noch etwas zu sehen.
Obwohl also alle ZuschauerInnen das gleiche Geschehen bezeugen, nehmen sie
unterschiedliche Ausschnitte wahr. Versperren zwei Hindernisse die Sicht
auf der einen Seite, entstehen gegenüber Momente der Klarheit.
Zu sehen ist dann der Ausgangspunkt der [1][bekannten] TV-Robinsonade: Eine
Gruppe stereotyper Gestalten stürzt mit dem Flugzeug auf eine einsame
Insel. Während sie sich orientieren, wird der Plot immer komplexer und
anspielungsreicher: Rätsel, Monster und nicht zuletzt „die Anderen“ –
sonderbare Gestalten, die eher Funktion oder Textmarke sind. Ganz ehrlich:
Genau verstehen muss man das nicht.
## Der Antichrist am Theater
Giesche nimmt sich im Spiel mit diesen Motiven große Freiheiten heraus und
interessiert sich kaum für Plot und Konventionen. Das betont er auch: Als
den „Antichrist“ am Bremer Theater hatte der Artist in Residence das
Rechercheprojekt bezeichnet – wohl wissend, dass nicht alle
TheaterbesucherInnen Intendant Michael Börgerdings Begeisterung für
zeitgenössisches Theater teilen.
Der Gestus ist nicht einfach Provokation. Giesche arbeitet ernsthaft mit
dem, was er dem Theater zuführt. Ohne sich dem Pop anzubiedern oder
akademisch drüberzustehen, zitiert er Texte und Lieder liebevoll herbei.
Erst Tiefschürfendes von [2][Georges Perec], dann Holzhammer-Lyrik der
[3][Beach] Boys: „Bermuda, Bahama, come on pretty mama.“ Sicher umschifft
wurde die Versuchung, „Fernsehen als Performance“ oder
„Unterhaltungsschrott im Theater“ zum Ereignis aufzublasen.
Das geht schon lange nicht mehr. Es gibt heute niemanden mehr, der sehenden
Auges vom US-Fernsehen als Zerfall von Kultur schwadroniert. Die „guilty
pleasures“ von früher sind salonfähig geworden und werden, nicht erst seit
Millionen in die Produktionen fließen, in Kulturwissenschaft und Feuilleton
gleichermaßen gehypt. Heute gilt es, sich in diesen künstlichen Welten
zurechtzufinden – und das tut Lost mit traumwandlerischer Sicherheit.
Giesches PerformerInnen zeigen das als Konflikt zwischen Bio-Menschen und
einer Natur, die zunehmend artifizieller daher kommt. Die Bühnenmaschine
bestimmt nicht nur das Betrachten, sondern auch die Handlungen der
PerformerInnen. Sie halten das Ding am Laufen, wuchten die Stromkabel der
sich unablässig drehenden Wände mühsam über ihre Requisiten. Daneben
verschiedene Strategien, die Grenzen der Isolation auszuloten. Meistens
alleine – düstere Zitat-Monologe und gegenseitiges sich aus dem Weg gehen.
Hin und wieder kommt trotzdem leicht debile Urlaubsstimmung auf: „If you
like Pina Colada.“ Und immer wieder die Erinnerung ans Scheitern. Sängerin
Nadine Lehner baut eine Kette von Dominosteinen rund um die Bühne. Man muss
schon ziemlich abgebrüht sein, um da nicht unruhig zu werden.
## Ausgeweidete Melonen
Ewig geht das nicht gut. Irgendwann versinkt die Ferienhölle im Chaos:
Kleine Aufziehkakerlaken wuseln auf der Bühne herum, zwischen Müll,
Dominosteinen, und Essensresten. Zum Höhepunkt der Naturwerdung werden
Melonen ausgeweidet, deren Inneres lautstark auf den Boden klatscht.
So wie Giesches Performance mit Elementen von Video, Licht und
Toninstallation an den Grenzen des Erzähltheaters rüttelt, hat Lost – und
Vorgänger wie Twin Peaks oder Akte X – die passive Berieselung der
Vorabendserien aufgebrochen. Heute muss man Mitmachen und die Diskussion
ist Teil des Erlebnisses. Lost-Fans haben unzählige Foren, Blogs und Wikis
vollgeschrieben und wie Verschwörungstheoretiker über den Ausgang der Serie
spekuliert. Die Autoren haben mitgelesen und den ein oder anderen Gedanken
wahr gemacht.
Eben diesen Entwicklungsstand des Formats trifft die Performance
messerscharf. Der Abstraktionsgrad ist mutig, die Stimmigkeit verblüffend.
Und das haben TV-Vorlage, [4][Theateradaption] und eine schlimm eskalierte
Beach-Party gemeinsam: Sie machen Spaß, auch wenn man zwischendurch
vielleicht nicht alles versteht.
##
27 May 2014
## LINKS
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Lost_(Fernsehserie)
[2] http://associationgeorgesperec.fr/
[3] http://www.youtube.com/watch?v=W_RkbIRn6L4
[4] http://www.theaterbremen.de/de_DE/spielplan/lost.952102
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
Serien-Guide
Schauspiel
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Theater Bremen
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