# taz.de -- Graphic-Novel mit St.Pauli-Kolorit: Zeitsprung mit Zeichenstift | |
> „Rohrkrepierer“ heißt die neue Graphic Novel von Isabel Kreitz. Sie | |
> erzählt von der Nachkriegszeit im Hafenstadtteil St. Pauli | |
Bild: Isabel Kreitz wirft einen nostalgischen Blick auf eine düstere Kindheit … | |
Sieht man auch nicht mehr oft: einen Schreibtisch, auf dem kein Computer | |
steht. Im Atelier von Isabel Kreitz steht der [1][Computer] in der Ecke, | |
mit Blick auf die Wand und der Schreibtisch steht daneben. Die | |
Terminvereinbarung für diesen Besuch geschah über E-Mails, für die Isabel | |
Kreitz immer hin- und hergelaufen sein muss zwischen Schreibtisch und | |
Computer. Man hätte sie besser angerufen, das wäre einfacher gewesen. | |
Zumal Isabel Kreitz, 48, zwar eine Protagonistin der deutschen Comic-Szene | |
ist, aber nahbar. Ihr Atelier hat sie im Pastorat der St.-Pauli-Kirche, was | |
nichts mit religiösen Gefühlen, aber viel mit einem tollen Ausblick zu tun | |
hat. Von ihrem Schreibtisch aus sieht man links wie gerahmt die | |
Elbphilharmonie und vorn geht es raus zum Park Fiction, einem Ort, an dem | |
bei brauchbarem Wetter immer Menschen sind, die Zeit haben. An diesem | |
Schreibtisch sitzt sie also, entwickelt Geschichten und zeichnet sie und | |
tut das mit einer gewissen Muße: Drei Jahre und drei Monate hat sie an | |
ihrem aktuellen Werk gearbeitet – ein Zeitaufwand, den in der | |
Kreativwirtschaft sonst allenfalls Schriftsteller für sich beanspruchen | |
können. | |
Kreitz’ neues Buch heißt „[2][Rohrkrepierer]“ und ist wie auch ihre Büc… | |
„Haarmann“, „Die Sache mit Sorge“ und „Die Entdeckung der Currywurst�… | |
Graphic Novel – ein Comic also in Gestalt eines Buches, gemacht für Leser, | |
die sich wie bei einem Roman oder einer Novelle einlassen wollen auf eine | |
profund erzählte Geschichte. | |
„Rohrkrepierer“ hat 304 Seiten und ist eine Adaption des gleichnamigen | |
Romans des Hamburger Autors Konrad Lorenz. Erzählt wird die Geschichte des | |
jungen Kalle, der in der Nachkriegszeit auf St. Pauli aufwächst: Kalle ist | |
neun Jahre alt und lebt mit seiner Mutter und seiner Großmutter am heutigen | |
Hein-Köllisch-Platz. Der Vater kommt überraschend aus der Gefangenschaft | |
zurück und redet kein Wort. Zu Hause wird viel gestritten und letztlich ist | |
es die Mutter, die die Familie mit Schwarzmarktgeschäften durchbringt. | |
Die Rahmenbedingungen sind düster, aber trotzdem erlebt Kalle keine | |
schlimme Kindheit. Im kriegsversehrten St. Pauli gibt es für ihn und seine | |
Freunde viel Freiheiten und viel zu entdecken: Da sind die Prostituierten, | |
die ihre Kunden in Kastenwagen bedienen, die Ruinen, die sich erklettern | |
lassen, die Halbstarken, Säufer und Schausteller, die für Aufregung auf der | |
Straße sorgen. Kalle ist mittendrin und voll dabei. Wenn sein Vater in die | |
Kneipe geht, dann geht er mit. | |
Kalle hinterfragt und leidet nicht, er arrangiert sich damit, was ist. Auch | |
als der Vater die Familie wieder verlässt, ist das kein problematischer | |
Wendepunkt in der Erzählung, sondern schlicht das Ende der ersten Episode. | |
Ein weißes Blatt markiert einen Zeitsprung und weiter geht es mit Kalles | |
Jugend, die vor allem von zwei Fragen geprägt ist: Was genau kann er mit | |
Frauen erleben? Und welche Wege gibt es dahin? | |
Isabel Kreitz hat sich für „Rohrkrepierer“ nicht neu erfunden, sie hat das | |
getan, was ihr für „Haarmann“ und „Die Sache mit Sorge“ jeweils den | |
Sondermann-Preis der Frankfurter Buchmesse eingebracht hat: Sie macht eine | |
vergangene Welt erfahrbar durch detailreiche Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Als | |
Vorlagen dafür dienten Kreitz vor allem alte Fotobücher, in diesem Fall die | |
des Fotografen Herbert Dombrowski. Der hat in der Nachkriegszeit unter | |
anderem das Straßenleben auf St. Pauli fotografiert. | |
Ferner erzählt Kreitz eine Geschichte, in der viel Lokalkolorit und | |
Zeitgeist steckt. Das setzt nicht nur eine intensive Beschäftigung mit der | |
jeweiligen Zeit, sondern auch mit der Dramaturgie der [3][Buch-Vorlage] | |
voraus. Die Graphic Novel, die dabei entstanden ist, sieht Kreitz „näher am | |
Film als an der Literatur. Ich mache keine Textkästen, sondern überlasse | |
alles dem Bild, wie im Film“. | |
Kreitz spricht vom „Storyboard“ als erstem Arbeitsschritt. Die Erzählung | |
ordnet sie so, dass eine Episode am Ende einer Doppelseite abgeschlossen | |
ist. „Das Umblättern“, sagt Kreitz, „ist der Schnitt des Comics.“ | |
Würde man die Einzelbilder in „Rohrkrepierer“ mit den Begriffen der | |
Kameraarbeit im Film beschreiben, dann müsste man von einer entfesselten | |
Kamera sprechen. Unter- und Aufsicht, Großaufnahmen, Detailaufnahmen, | |
Totalen, Normalsicht – alles ist dabei. Der Kreitz’sche Blick auf und in | |
diese Welt ist einer der räumlichen Vermittlung. Das Kino im Kopf kommt | |
schnell auf Touren. | |
Die Affinität zum Film ist auch der Ausgangspunkt von Kreitz’ Berufsweg. | |
Aufgewachsen im Hamburger Stadtteil Klein Flottbek, habe sie, als sie klein | |
war, „so viel wie möglich vor der Glotze geklemmt. Ich habe mir selbst | |
kleine Filmsequenzen gezeichnet.“ Dann las sie ihre ersten Bücher von Will | |
Eisner – das ist jener amerikanische Comic-Künstler, der mit Krimi-Comics | |
begann und später den Begriff „Graphic Novel“ einführte. Eisner prägte d… | |
Comic-Entwicklung durch seinen Zeichenstil und die Wahl seiner Stoffe. | |
Durch seine Bücher hat Kreitz gemerkt, was man mit dem Genre Comic machen | |
kann. | |
Kreitz hat in Hamburg an der Fachhochschule für Gestaltung und in New York | |
an der Parsons School studiert. In den USA lernte sie die Comic-Produktion | |
durch Arbeitsteilung kennen: Jeden Arbeitsschritt übernahm eine | |
spezialisierte Arbeitskraft, wie am Fließband. Zurück in Deutschland gab es | |
das nicht. Aber es gab auch kaum Jobs. Einer, der Kreitz zukam, war das | |
Zeichnen von Ottifanten: 28 Strips pro Woche, Rüssel für Rüssel. Das war | |
Anfang der 1990er. | |
Seitdem hat sich die Szene immer wieder verändert. Kreitz beschreibt die | |
Veränderung so: „In den 90er-Jahren gab es einen Comic-Boom in Form von | |
Heften aller möglichen Art. Der Markt kollabierte und aus den Heften wurden | |
Alben. Und dann sind die Belletristen auf den Graphic-Novel-Zug | |
aufgesprungen.“ | |
In Kreitz’ Oeuvre sind die Graphic Novels eine Sache neben anderen: Viel | |
Beachtungen fanden auch ihre klassisch gehaltenen Adaptionen der | |
Erich-Kästner-Bücher „Der 35. Mai“, „Pünktchen und Anton“ und „Emi… | |
Detektive“. Ferner illustriert sie Kinderbücher, macht Editorials oder | |
Werbung. Denn von Comics allein lässt sich schwer leben, auch wenn diverse | |
Preise dazukommen: Den Max-und-Moritz-Preis beispielsweise bekam Kreitz | |
bereits zweimal – ebenso wie den Sondermann-Preis. | |
Die Frage ist nun, wie es weitergeht mit dem Genre Comic. Dem Internet als | |
Plattform und Vertriebskanal für Comics kann Kreitz wenig abgewinnen. „Ich | |
lese selbst sehr ungern am Bildschirm,“ sagt sie. Eher stellt sie sich die | |
Frage, ob sich die erzählerischen Konzepte der TV-Serien auf Comics | |
[4][übertragen lassen]. Das wäre natürlich ein großer Wurf: ein Comic, der | |
eine Sogwirkung entfaltet wie „Mad Men“ oder „House of Cards“ und seinen | |
narrativen Bogen über mehrere Bände spannt. | |
Vielleicht wird aber auch noch etwas aus dem Projekt, das Kreitz seit | |
vielen Jahren im Auge hat: die „Buddenbrooks“ als Comic. Das Vorhaben | |
scheitert am grünen Licht, das der S.-Fischer-Verlag für die Rechte geben | |
müsste. Was Kreitz an den „Buddenbrooks“ interessiert? „Die vielen tollen | |
Charaktere. Außerdem erinnert mich die Geschichte an meine eigene Familie.“ | |
Die „Buddenbrooks“ handeln von Aufstieg und Untergang einer | |
Kaufmannsfamilie, erzählt über vier Generationen hinweg. | |
Die „Buddenbrooks“, die „Entdeckung der Currywurst“, jetzt „Rohrkrepi… | |
Ein roter Faden in Kreitz’ Arbeit ist die Beschäftigung mit der Welt der | |
Vorfahren. Die Frage für sie scheint: Wie sind sie geworden, was sie sind | |
oder waren? Die Konsequenz daraus ist jenes Sichzurücknehmen, die Kreitz | |
oft von Journalisten attestiert wird. | |
Schaden tut das der Qualität ihrer Arbeit nicht. Eher scheint es so, dass | |
sich mit der Nischen-Kunst des anspruchsvollen Comics und der Künstlerin | |
Isabel Kreitz zwei gefunden haben. | |
27 Nov 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://isakreitz.de/ | |
[2] https://www.carlsen.de/hardcover/rohrkrepierer/38844 | |
[3] http://www.konrad-p-lorenz.de/rohrkrepierer.html | |
[4] http://www.sechsaus49.de/ | |
## AUTOREN | |
Klaus Irler | |
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