# taz.de -- Fortsetzung von Comic-Serie: Nonchalant zwischen den Fronten | |
> Zwei neue „Corto Maltese“-Comics sind draußen. Einmal in der aufregenden | |
> Adaption von Bastian Vivès. Dann als Klischee von deutscher | |
> Zeitgeschichte. | |
Bild: Martin Quenehem und Bastien Vivés transportieren den Maltese-Mythos ins … | |
Zwei unterschiedliche Ansätze gibt es mittlerweile, wenn es um die | |
Fortsetzung klassischer europäischer Comic-Serien geht. Der eine besteht | |
darin, im Wesentlichen so weiterzumachen wie bisher. Verbunden mit | |
behutsamen Modernisierungen, wie etwa bei „Blake & Mortimer“. Und das kann | |
durchaus unterhaltsam sein. Der andere Ansatz ist die mehr oder minder | |
radikale Neuerfindung. Ein Beispiel hierfür ist Émile Bravos | |
[1][großartiger Vierteiler „Spirou oder: die Hoffnung“], in dem der Held | |
sich im okkupierten Belgien des Zweiten Weltkriegs zurechtfinden muss. | |
An den aktuellen „Corto Maltese“-Bänden kann man gleich beide Ansätze | |
studieren. [2][Erfunden wurde der „Seemann ohne Schiff“], der im ersten | |
Drittel des letzten Jahrhunderts weltweit unterwegs ist, 1967 von Hugo | |
Pratt. Bis zum Jahr 1991 erschienen dreizehn überwiegend umfangreiche | |
Alben. | |
Mit Pratts Tod 1995 ruhte die Serie vorerst, bis sie 2015 von Juan Díaz | |
Canales (Text) und Rubén Pellejero (Zeichnungen) wiederbelebt wurde. Nach | |
Abenteuern in Kanada, Ägypten und Tasmanien spielt „Nacht in Berlin“ nun in | |
Deutschland, und zwar im Jahr 1924. | |
Dort angekommen, erfährt Corto, dass Professor Steiner, einer seiner besten | |
Freunde, ermordet worden ist. Dieser war im Besitz einer seltenen | |
Tarotkarte, für die sich auch eine okkultistisch-esoterisch orientierte | |
Geheimgesellschaft interessiert. | |
## „Operation Consul“ | |
Gleichzeitig jagen sowohl Mitglieder der KPD als auch Kryptonazis hinter | |
Dokumenten über die rechtsextreme Terrorgruppe „Operation Consul“ her. | |
Corto navigiert wie immer nonchalant zwischen den Fronten, bis ihn eine | |
Begegnung auf dem jüdischen Friedhof in Prag kurz die Fassung verlieren | |
lässt. | |
Die „Operation Consul“ hat es wirklich gegeben. Sie ging aus rechtsextremen | |
Freikorpsverbänden hervor und war unter anderem für die Ermordung Walther | |
Rathenaus verantwortlich. In „Nacht in Berlin“ treten zusätzlich aber auch | |
prominente Protagonisten der Weimarer Zeit auf. Etwa die Schriftsteller | |
Joseph Roth und Gustav Meyrink, der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, die | |
Sängerin Marlene Dietrich oder der Boxer Max Schmeling. | |
Auch der Stummfilm wird herbeizitiert und zum Leben erweckt. In einem Kino | |
läuft Murnaus Drama „Der letzte Mann“. Der lange, gekrümmte Schatten, den | |
Corto nun nächtlich in dem Comic auf eine weiße Wand wirft, erinnert an | |
Nosferatu. An weiteren Stellen der Erzählung werden berühmte Szenen aus | |
Fritz Langs „Dr. Mabuse, der Spieler“ und Murnaus „Faust“ nachgebildet. | |
Diese Überfülle an Referenzen – eine Traumszene führt auch an den Prager | |
Kaiserhof um 1600 – tut dem Comic allerdings insgesamt nicht so gut. Das | |
Einflechten realer Personen und Ereignisse hat zwar immer schon zu den | |
Markenzeichen von „Corto Maltese“ gehört. „Nacht in Berlin“ liest sich | |
jedoch, als hätte Juan Díaz Canales vor der Niederschrift seines Szenarios | |
eine entsprechende Checkliste angelegt und diese dann Punkt für Punkt | |
abgearbeitet. | |
## Verweise auf Zeit-und Kulturgeschichte | |
Erhellend ist hier ein Vergleich mit „Das Humboldt-Tier“. Dieser aktuelle | |
Comic von Flix ist am selben historischen Ort und nur wenige Jahre später | |
angesiedelt. Doch Flix gelingt es, die Verweise auf Zeit- und | |
Kulturgeschichte dezent einzustreuen, anstatt die Handlung zu überlagern. | |
Auch visuell ist „Nacht in Berlin“ weniger aufregend. Pellejero bietet doch | |
eine etwas gefälligere Variation des expressiven Stils Pratts. | |
Ganz anders hingegen ist der Fall bei dem Band „Schwarzer Ozean“ gelagert. | |
Hier überrascht allein schon der Name [3][des Zeichners: Bastien Vivès.] | |
Der ist bislang weniger für Genre-Comics bekannt als für sensible Graphic | |
Novels wie „Der Geschmack von Chlor“ und „Polina“. Und die zweite | |
Überraschung: „Schwarzer Ozean“ spielt 2001, in den Wochen vor und nach den | |
Anschlägen von 9/11. | |
Corto ist hier ein moderner Pirat. Als seine Kumpane sich bei einem Angriff | |
auf eine Yacht im Chinesischem Meer als skrupellose Mörder herausstellen, | |
rettet er dem Überfallenen, einem älteren Japaner, das Leben. In Tokio | |
angekommen, wird Dr. Fukuda jedoch während einer Kabuki-Aufführung | |
ermordet. | |
Wie sich herausstellt, war er alles andere als harmlos, sondern Mitglied | |
einer ultranationalistischen Politsekte. Zudem hütete er ein altes Buch, in | |
dem von einem sagenhaften Goldschatz die Rede ist, den die Inkas vor den | |
Konquistadoren versteckt haben. | |
## Colin Powell wechselt Worte auf Hebräisch | |
Erstaunlich mühelos gelingt es Vivès und seinem Szenaristen Martin | |
Quenehen, den Corto-Maltese-Mythos ins 21. Jahrhundert zu transponieren. | |
Die etwas rätselhaften, eigenwilligen Frauenfiguren, die Pratt gerne | |
erfand, werden jetzt durch eine kühle japanische Geheimagentin, eine | |
engagierte Dokumentarfilmerin und eine peruanische Heilerin ersetzt. | |
Radikale Umweltschützer legen sich mit Hochseefischern an; in einer Szene | |
wechselt Colin Powell im Vorübergehen auf Hebräisch ein paar Sätze mit | |
Corto. Klingt wild, doch nichts daran wirkt aufgesetzt, alles ist | |
schlüssig. Ein genderfluider, sehr junger Corto gleitet eher | |
passiv-träumerisch durch die locker gefügte Handlung, in der Figuren | |
erscheinen und verschwinden und vieles nur angedeutet bleibt. | |
Anders als Pratt arbeitet Bastien Vivès nicht mit harten | |
Schwarz-Weiß-Kontrasten, verzichtet aber ebenfalls oft auf detaillierte | |
Hintergründe. Als dritte „Farbe“ kommen bei ihm Grautöne ins Spiel. Und: | |
„Schwarzer Ozean“ ist ausschließlich am Laptop gezeichnet. Solche Arbeiten | |
haben zumeist, mögen sie auch elegant aussehen, etwas Steriles. Doch dies | |
ist hier nicht der Fall. Der skizzenhafte Stil, den Vivès perfekt | |
beherrscht – manchmal verzichtet er sogar darauf, Augen und Münder zu | |
zeichnen –, lässt den Einsatz von Tuschepinsel oder -feder nicht vermissen. | |
Wegen hasserfüllter Äußerungen in sozialen Medien und aufgrund einiger | |
nicht zu Unrecht umstrittener pornografischer Comics ist der zuvor stets | |
gefeierte Vivès in Frankreich jüngst sehr in die Kritik geraten. Eine ihm | |
gewidmete Ausstellung beim Comic-Festival in Angoulême wurde abgesagt. | |
„Schwarzer Ozean“ steht für die helle Seite seines Könnens, auch dank des | |
sehr guten Szenarios. Hugo Pratt hätte an dem Band sicherlich | |
uneingeschränkte Freude gehabt. | |
24 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Geschichtsvermittlung-durch-Comics/!5871506 | |
[2] /Comicautor-Hugo-Pratt/!5644372 | |
[3] /Graphic-Novels-aus-Frankreich/!5428754 | |
## AUTOREN | |
Christoph Haas | |
## TAGS | |
Comic | |
Berlin | |
Comic-Held | |
Gegenwart | |
Höhle | |
wochentaz | |
Comic | |
Comic | |
Comic | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Öko-Graphic-Novel aus Frankreich: Höhlenmalerei statt Atommüll | |
Étienne Davodeau begibt sich in „Das Recht der Erde“ auf eine Wanderung | |
quer durch Frankreich. Seine Graphic Novel ist ein ökologisches Manifest. | |
Neuauflage von Jacques Tardis Comics: Pastiche und Parodie | |
Der Zeichner Jacques Tardi schuf mit „Adele“ eine Comic-Heldin, wie sie in | |
den Siebzigern selten war: Schriftstellerin, stets bekleidet und | |
unabhängig. | |
Comicautor Hugo Pratt: Dichte Erzählungen | |
Deutsche Verlage entdecken das Frühwerk des Schöpfers von „Corto Maltese“, | |
Hugo Pratt. Oft geht es um die koloniale Geschichte der zwei Amerikas. | |
Drei Comic-Klassiker in Belgien: Reisen in gezeichnete Traumwelten | |
Hergé, Hugo Pratt, Didier Comès – drei Ausstellungen in Belgien zeigen | |
Klassiker des Comics. Sie alle waren große Erzähler und Zeichner. | |
Hugo Pratts Comic-Held „Corto Maltese“: Flaneur der Weltmeere | |
Mehr Roman als Comic – „Corto Maltese“ erneuerte ein ganzes Genre. Jetzt | |
erscheint der Klassiker in einer deutschen Neuausgabe. |