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# taz.de -- Comicautor Hugo Pratt: Dichte Erzählungen
> Deutsche Verlage entdecken das Frühwerk des Schöpfers von „Corto
> Maltese“, Hugo Pratt. Oft geht es um die koloniale Geschichte der zwei
> Amerikas.
Bild: Cover der deutschen Erstauflage von „Ticonderoga“
Dem Siegeswillen der britischen Truppen unter der Führung von Edward
Braddock ist kein Franzose gewachsen, noch weniger fürchtet der erfahrene
Heerführer die mit dem Feind verbündeten Indianer. Kurz darauf gerät sein
Bataillon beim Marsch durch undurchdringliche Wälder in einen Hinterhalt
der Franzosen und den Kriegern der Huronen: Die Soldaten werden vernichtend
geschlagen, ihr General wird tödlich verwundet. Der 15-jährige Kadett Caleb
Lee überlebt dank des Eingreifens des Waldläufers „Ticonderoga“.
Auf meisterliche Weise wird in der Exposition beschrieben, wie die
anfängliche Unbekümmertheit des jugendlichen Erzählers kippt und einer
ungeschönten Schilderung des Gefechts weicht. Ähnlich bedrohliche
Situationen werden in Variationen immer wiederkehren und können einzig
durch die Geschicklichkeit der Helden gemeistert werden. Die Szene aus der
ersten Folge der Comicserie „Ticonderoga“ beschreibt die historische
Schlacht am Monongahela River von 1755, an der auch der spätere erste
Präsident der USA, George Washington, als Colonel beteiligt war.
Der italienische Autor Hugo Pratt (1927–95), der heute vor allem durch
seine Comics um den Abenteurer „Corto Maltese“ berühmt ist, zeichnete die
für ein jugendliches Publikum gedachten Abenteuer von 1957 bis 1961 für die
Comicmagazine des argentinischen Verlags „Frontera“. Der Berliner Avant
Verlag bringt dieses vergessene Frühwerk des italienischen Zeichners nun
erstmals auf Deutsch heraus.
Aus der Sicht des in Krieg und Wildnis unerfahrenen Caleb Lee wird die Saga
um den nur wenig älteren, verwegenen Joe „Ticonderoga“ Flint erzählt, dem
die Wälder und Gebirgsläufe Nordamerikas wie auch der Umgang mit der Flinte
vertraut sind. An ihrer beider Seite kämpft auch der kluge, zu keinem Stamm
gehörende Indigene Numokh. Den Hintergrund bildet der „Siebenjährige Krieg
in Nordamerika“ von 1756–63 (der eigentlich schon 1754 begann), in dem
Briten und Franzosen jeweils mithilfe indigener Verbündeter um die
Vorherrschaft kämpften.
## Inneramerikanische Territorialkonflikte
Im Gegensatz zu früheren Stellvertreter-Konflikten der europäischen
Kolonialmächte in der Neuen Welt ging es hier um einen inneramerikanischen
Territorialkonflikt – beide Seiten beanspruchten weitgehend unberührte
Landstriche, insbesondere des Ohiotals, für sich. Der Konflikt bildet auch
den Hintergrund für James Fenimore Coopers literarischen Klassiker „Der
letzte Mohikaner“ von 1826.
Der bedeutende argentinische Schriftsteller und Verleger Héctor Germán
Oesterheld (1919–77) entwickelte das Szenario der Fortsetzungsreihe und
lehnte sich dabei an Coopers erzählerisches Vorbild an. Interessant sind
die „Ticonderoga“-Erzählungen nicht nur wegen ihrer historischen
Genauigkeit. Sie zeigen einen zeichnerisch schon routinierten, stilistisch
noch nicht ganz ausgereiften realistischen Zeichner, dem bereits
meisterlich komponierte Bildsequenzen gelingen.
Stimmungsvoll, beschränkt auf getuschtes und aquarelliertes Schwarzweiß,
kreiert Pratt ein vor Spannung knisterndes Spiel aus Licht und Schatten,
das subtil das Eindringen der Europäer in eine raue, ihnen feindlich
gesinnte Wildnis symbolisiert. Oesterheld und Pratt zeigen ein für die
damalige Zeit sehr differenziertes Bild der Gesellschaft, sie reduzieren
etwa indianische Charaktere nicht auf damals übliche Stereotype von Wilden
oder auch „edlen Wilden“, sondern zeichnen sie als prägnante Individuen mit
Ecken und Kanten.
Selbst die Hauptfigur des jungen Engländers Caleb Lee kommt weitgehend ohne
kolonialistischen Blick aus und kann auch nach 60 Jahren noch getrost als
positive Identifikationsfigur bezeichnet werden.
## Sämtliche „Ticonderoga“-Folgen sorgfältig restauriert
Auch editorisch ist diese Gesamtausgabe ungewöhnlich, da der erste Band
querformatig, der zweite Band hingegen hochformatig angelegt ist. Das geht
auf die ursprünglichen Formate der Serie zurück: zunächst wurden die Strips
in damals üblichen querformatigen Piccolo-Heften des „Frontera
Mensuel“-Magazins, später im Hochformat von „Frontera Extra“
veröffentlicht. Nach einer Reihe gekürzter und umformatierter ausländischer
Ausgaben werden hier erstmals sämtliche „Ticonderoga“-Folgen sorgfältig
restauriert zusammengeführt.
In der auf Sekundärliteratur spezialisierten Edition Alfons ist nun,
ebenfalls erstmals ins Deutsche übertragen, mit „Warten auf Corto“ ein
autobiografischer Text Hugo Pratts erschienen, der auf Tonbandaufnahmen von
1970 basiert. Dabei handelt es sich um ein rohes Konvolut von Anekdoten,
die Dichtung und Wahrheit vermischen.
Pratt erzählt etwa von seiner Kindheit in Abessinien ab 1937, wo sein Vater
als Kolonialoffizier der faschistischen Bewegung Mussolinis diente – und
den eigenen minderjährigen Sohn in eine Uniform steckte und als Polizisten
einsetzte. Wenn man die Comics des erwachsenen Hugo Pratt liest, kann man
noch Spuren dieser für den Heranwachsenden verwirrenden wie traumatischen
Zeit herauslesen.
In der Nachkriegszeit, einer Zeit der Neuordnung untergehender
Kolonialreiche, griff Hugo Pratt immer wieder auf die Epoche der
Kolonialisierung und deren Folgen zurück. Durch seine engen Kontakte mit
der arabischen Bevölkerung Abessiniens entwickelte er sehr früh ein Gefühl
für unterdrückte, von den Besatzern schlecht behandelte Völker – nicht nur
dieser Region, sondern der ganzen Welt.
## Ambivalente, gebrochene Helden stehen im Fokus
Die meisten seiner Comics handeln von westlich geprägten Protagonisten, oft
Weltenbummlern oder Abenteurern, die unfreiwillig in Konflikte der alten
Kolonialmächte (oder deren Nachfolgestaaten) mit den einheimischen
Bevölkerungen hineingeraten. Diese politischen Hintergründe werden von
Pratt stets differenziert wiedergegeben.
Zwischen 1976 und 1980 entwickelten bekannte italienische Zeichner wie Milo
Manara, Dino Battaglia oder Sergio Toppi für die Albenreihe „Ein Mann, ein
Abenteuer“ sehr unterschiedliche Helden. Hugo Pratt nutzte die Reihe, um
keine klassischen, sondern ambivalente, gebrochene Helden in den Fokus zu
stellen. Insgesamt vier Geschichten entstanden, die nun (teils erstmals auf
Deutsch) in zwei Bänden im Verlag Schreiber und Leser vorliegen und einen
gereiften Pratt auf dem Zenit seiner Kunst zeigen.
In der kurzen Form erreichte er, wie in der in der Karibik angesiedelten
Erzählung „Svend“, eine an Hemingway erinnernde Dichte. Oft fütterte er
seine Storys mit der Philosophie und den Mythen der beschriebenen, mit
wenigen Pinselstrichen eingefangenen Länder an. In „Westlich von Eden“
(1978) gerät der britische Lieutenant Robinson im Jahr 1922 mitten in der
Wüste zwischen British Somaliland und Abessinien in eine absurde
Bedrohungslage, bei der ein einzelner einheimischer Krieger seine ganze
Einheit zu dezimieren droht.
Oder ist alles bloß das Phantasma eines unter sengender Sonne delirierenden
Offiziers? Hugo Pratt gelingt eine meisterliche Erzählung von einer
Entfremdung, die Dialog nur da gebraucht, wenn er nötig ist, und ansonsten
die Bilder (Farben: Anne Frognier) sprechen lässt.
11 Dec 2019
## AUTOREN
Ralph Trommer
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