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# taz.de -- Comic „Alack Sinner“: Erst hard boiled, dann Noir-Poesie
> Mit „Alack Sinner“ von Carlos Sampayo und José Muňoz ist ein Meilenstein
> der Comic-Moderne nun auf Deutsch erschienen.
Bild: Aus: „Alack Sinner“ von Carlos Sampayo (Text) und José Muñoz (Zeich…
Wer Schwarz-Weiß-Comics liebt, kommt nicht um Argentinien herum. Einer der
wichtigsten Vertreter der Szene, die sich dort ab den Fünfzigern
herausbildete, war der Szenarist [1][Héctor Oesterheld], der 1978 im
Auftrag der damals herrschenden Junta verschleppt und ermordet wurde.
[2][Für den jungen Hugo Pratt], der aus Italien übergesiedelt war, schrieb
er den Frühwestern „Ticonderoga“, für Francisco Solano López das düstere
Science-Fiction-Epos „El Eternauta“ (beide 1957–1959). Auch der geniale,
experimentierfreudige Zeichner Alberto Breccia war Argentinier; von ihm
sind auf Deutsch „Eternauta 69“ und ein Band mit Lovecraft-Adaptionen aus
den Siebzigern erhältlich.
Alle genannten Comics sind in den vergangenen Jahren beim Avant-Verlag
erschienen, der nun ein weiteres, unentbehrliches Meisterstück
argentinischer Provenienz präsentiert. „Alack Sinner“ ist allerdings im
Exil entstanden, in Italien und Frankreich. Als Carlos Sampayo und José
Muňoz 1975 mit der Serie begannen, war es ihnen unmöglich, in ihrer Heimat
zu arbeiten.
## Immer neue politische Episoden
Bis 2006 fügten sie neue Episoden hinzu, die stets zu ihrer
Publikationszeit spielen und oft mit jeweils aktuellen politischen
Ereignissen verknüpft sind: vom Vietnamkrieg über die Nicaragua-Politik der
USA in den Achtzigern und den Ersten Irakkrieg 1990 bis zu den
9/11-Anschlägen.
Alack Sinner, der New Yorker Privatdetektiv, ist zunächst ein kräftiger
Mann in den besten Jahren; später bekommt er einen Bauch, immer mehr Falten
im Gesicht und eine Lesebrille; am Ende ist er Großvater. Anders als sonst
in Serien steht die Zeit nicht still; sie vergeht wie im wirklichen Leben.
Aber nicht nur Sinner verändert sich; mit ihm verändern sich im Laufe der
Jahre seine Schöpfer, die immer selbstständiger und kühner agieren.
Die frühen, an amerikanischen Zeitungsstrips geschulten Zeichnungen von
Muňoz sind noch recht akkurat-realistisch, während Sampayo versucht, in die
großen Fußstapfen von Raymond Chandler und Ross Macdonald zu treten.
## Der Auftrag wird in Hard-Boiled-Manier geklärt
Das ist ordentlich gemacht, in jeglicher Hinsicht, aber noch etwas
epigonal. In „Der Fall Webster“ wird der Chef einer Werbeagentur von
Unbekannten bedroht; in „Fillmore“ liegt eine junge, reiche Erbin mit ihren
Eltern im Clinch; in „Er, dessen Güte grenzenlos ist“ herrscht Unordnung in
einer sehr frommen Pastorenfamilie. Das Schema ist klar: Sinner erhält
einen Auftrag, der sich zum Mordfall auswächst und von ihm in bewährter
Hard-Boiled-Manier geklärt wird.
Mit diesem routinierten Durchspielen von Genreregeln ist bald jedoch
Schluss. Eine lange, ursprünglich 1984 veröffentlichte Geschichte trägt den
signifikanten Titel „Begegnungen“. In ihr geht es um Leute, auf die Sinner
trifft, teilweise auf einer Reise, und um Geschehnisse, in die er eher
zufällig verwickelt wird. Vom Handelnden wird er zum Beobachter, zu einem,
der sich treiben lässt. Anstelle der Spannungsdramaturgie tritt ein
episodisches, elliptisches Erzählen, das alle Eindeutigkeiten
verabschiedet.
Auch wenn Sampayo sich, wie später in „Nicaragua“ und „Der Fall USA“, …
Genre des Polit-Thrillers annähert, bleibt es bei dieser Gewichtung: Die
eigentliche Kriminalhandlung bleibt bewusst bruchstückhaft; sie ist weniger
bedeutend als die Schilderung der Figuren und der Welt, in der sie leben.
## Keine hervorgehobene Position für Alack Sinner
Schlüssig ist daher, dass Muňoz Sinner visuell gerne die hervorgehobene
Position verweigert, die ihm als Hauptfigur eigentlich zukäme. Dies gilt
sogar in dramatischen Momenten, etwa wenn Sinner mit seiner Schwester
spricht, die Opfer einer Vergewaltigung geworden ist.
Die Szene findet auf der Straße statt, aber in einem großformatigen Panel
sind die Sprechenden nur im Hintergrund zu sehen, während Vorder- und
Mittelgrund von sieben Passanten bevölkert sind, deren groteske
Physiognomien zeigen, welches Vergnügen Muňoz an karikaturistisch
zugespitzter Darstellung, speziell von Gesichtern, hat. Manchmal erlauben
Denk- oder Sprechblasen auch einen ganz kurzen Einblick in das Innere
solcher Statisten: Sinner ist in der großen Stadt letztlich bloß einer von
Millionen; viele Schicksale weben neben dem seinen.
In der Farbgestaltung verzichtet Muňoz völlig auf Grautöne, setzt ganz auf
den harten Kontrast von Schwarz und Weiß. Das ist nicht ungewöhnlich, wohl
aber, wie viel Raum er dem Schwarz öfter gibt. So zeigt eine Doppelseite,
wie Alack Sinner mit Enfer, seiner afroamerikanischen Freundin, schläft.
Obwohl es in dem Zimmer höchstens halbdunkel ist, dominiert völlig das
Schwarz; weiß sind nur die Körperkonturen und einige gezielt hervorgehobene
Details.
## Film-Noir-Poesie
Solche Bilder erinnern ein wenig an Fotonegative, haben aber nichts
Geisterhaftes, sondern eine ganz eigene Film-Noir-Poesie. Muňoz kreiert
einen barocken Minimalismus, in dem Reduktion und Verspieltheit keine
Gegensätze bilden, sondern miteinander harmonieren.
Der 700 Seiten starke Band enthält alle Sinner-Geschichten. Bedauern muss
man das im Vergleich zu den großzügig angelegten französischen Erstausgaben
deutlich verkleinerte Format ebenso wie das Fehlen eines Vor- oder
Nachwortes, das die Serie ästhetisch und historisch verortet. Aber das sind
nur kleinere Mängel – die Freude darüber, dass dieser Meilenstein der
Comic-Moderne zum ersten Mal komplett auf Deutsch vorliegt, können sie
nicht mindern.
14 Jan 2020
## LINKS
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[2] /Comicautor-Hugo-Pratt/!5644372
## AUTOREN
Christoph Haas
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