# taz.de -- Comic von argentinischer Illustratorin: Bandoneon auf der Sternscha… | |
> In der Graphic Novel „Fußnoten“ verknüpft Nacha Vollenweider ihr Leben … | |
> der Wahlheimat Hamburg mit der Familiengeschichte in Argentinien. | |
Bild: In „Fußnoten“ reflektiert Nacha Vollenweider über ihre Gegenwart un… | |
Nacha Vollenweider kam 2013 mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen | |
Austauschdienstes zum Studium nach Hamburg. Seitdem lebt die argentinische | |
Illustratorin in Deutschland. Ihr autobiografischer Comic-Essay „Fußnoten“ | |
beginnt mit einer Fahrt in der Hamburger S-Bahn. Die Kopfhörer wärmend über | |
die Mütze gezogen, läuft auf dem Smartphone der jungen Frau das Programm | |
von Radio Nacional Córdoba, Vollenweiders argentinischer Heimatstadt. | |
Während die mit schwarzem Pinselstift skizzierten Fahrgäste in dicke | |
Winterkleidung gehüllt sind, verkündet auf einer anderen Zeichnung der | |
Radiosprecher für Córdoba sommerliche 32 Grad. | |
Die Gedanken der Protagonistin schweifen von der Erinnerung an den radio- | |
und tango-begeisterten Großvater in Alpa Corral zum Bandoneon-Spiel einer | |
Straßenmusikerin an der Hamburger Sternschanze und wieder zurück nach | |
Argentinien zu einer Bahnstation in der Provinz Buenos Aires namens Altona. | |
„Irgendwie lebe ich in zwei Welten“, stellt die Erzählerin am Ende des | |
Prologs fest. | |
Diese zwei Welten führt die argentinische Illustratorin in ihrem | |
Comic-Debüt mit leichtem Strich gelungen zusammen. Wie in einem Dominospiel | |
fügen sich zunächst verwandte Bilder in fließendem Übergang aneinander, um | |
dann dem inneren Monolog der Protagonistin folgend eine andere Richtung | |
einzuschlagen. | |
Scheinbar mühelos gelingt der Wahlhamburgerin damit eine große Erzählung, | |
die von der Geschichte Argentiniens genauso wie von der Ehe für alle oder | |
den in Europa eintreffenden Flüchtlingen handelt. In ihren „Fußnoten“ | |
zeichnet Vollenweider die wechselhaften, historischen Ereignisse anhand der | |
Familiengeschichte und ihren eigenen Erfahrungen nach. | |
Als 1977 die Bahnstrecke in Vollenweiders Geburtsort Rio Cuarto aufgegeben | |
wurde, verschleppten die Militärs ihren Onkel Ignacio, der zu der Gruppe | |
der links-peronistischen Montoneres gehörte. Heute beheimatet die ehemalige | |
Bahnstation ein Haus der Erinnerung für die 30.000 Verschwundenen während | |
der argentinischen Militärdiktatur. | |
Im Haus der Großmutter erinnern zahlreiche Gegenstände an den ermordeten | |
Onkel – eine Jacke am Haken, einige Möbel und viele Familienfotos. Auf | |
wenigen Seiten und in eindrücklichen Szenen umreißt die Zeichnerin die | |
Verbrechen der Militärs, den Widerstand der Mütter von der Plaza de Mayo | |
genauso wie den zähen Kampf gegen Straflosigkeit nach dem Ende der | |
Diktatur. | |
## Atmosphärisch dichtes Bild Argentiniens | |
Rückblenden und Szenen in der Hamburger S-Bahn wechseln einander ab. | |
Irgendwann steigt Chini, die Partnerin der Erzählerin in den Wagon mit ein. | |
Die folgende „Fußnote“ berichtet von der ersten gemeinsamen Reise nach | |
Argentinien und ihren Erlebnissen in Córdoba. Mit der neu gewonnenen | |
Distanz zu der ihr so vertrauten Umgebung skizziert Vollenweider mit vielen | |
prägnanten Details ein atmosphärisch dichtes Bild Argentiniens. | |
Um den Aufenthalt in Deutschland nach dem Studium zu ermöglichen, haben die | |
argentinische Zeichnerin und Chini geheiratet. Vollenweider zeigt ihre | |
einsame Eheschließung auf dem Standesamt in Hamburg-Bergedorf | |
traumwandlerisch mit Huhn, Hase, Elefant und Eichhörnchen als Trauzeugen | |
der Zeremonie. | |
In einer anderen Szene am Hamburger Hauptbahnhof sehen sie, wie ein Mann | |
ohne Papiere von der Polizei festgenommen wird. Die beiden Frauen melden | |
sich bei den freiwilligen Helfern, die am Bahnhof die eintreffenden | |
Flüchtlinge betreuen. | |
Mit „Fußnoten“ hat Nacha Vollenweider eine virtuos inszenierte | |
Bilderzählung über die Suche nach der eigenen Identität zwischen Herkunft, | |
Geschichte und gesellschaftlicher Wirklichkeit vorgelegt. Gekonnt lotet die | |
junge Autorin darin das narrative Potenzial von Illustration und Text aus. | |
Ganz nebenbei macht der autobiografische Comic durch einen subjektiven | |
Zugang auch für Jugendliche zugänglich geschildert mit der wechselhaften | |
Vergangenheit Argentiniens – mit Kolonisierung, Peronismus und | |
Wirtschaftskrise vertraut. | |
Dass sich die Gegenwart nicht isoliert von historischen Ereignissen | |
betrachten lässt, wird spätestens in Vollenweiders Fußnote über ihre | |
Schweizer Vorfahren deutlich. Denn die waren, wie so viele Europäer während | |
des letzten Jahrhunderts, vor der Armut nach Argentinien geflohen. | |
25 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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