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# taz.de -- Neuauflage von Jacques Tardis Comics: Pastiche und Parodie
> Der Zeichner Jacques Tardi schuf mit „Adele“ eine Comic-Heldin, wie sie
> in den Siebzigern selten war: Schriftstellerin, stets bekleidet und
> unabhängig.
Bild: Szene aus Jacques Tardis „Adele Blanc-Sec“
Die 1970er waren das Golden Age der französischen Erwachsenen-Comics. Ein
Schönheitsfehler aus heutiger Sicht: An den Zeichentischen saßen fast
ausschließlich Männer. Ein paar Zeichnerinnen gab es zwar, etwa die geniale
[1][Claire Bretécher], aber sie waren eine kleine Minderheit.
In den Comics selbst fehlte es dagegen nicht an Frauen, allerdings war ihre
Darstellung einer spezifisch männlich-heterosexuellen Perspektive
verpflichtet. Sie waren Schau-Objekte: jung und hübsch, gerne vollbusig und
– nun, da keine Zensur mehr griff – sehr oft nackt.
Eine der wenigen Ausnahmen von dieser Regel heißt Adele – im Original:
Adele Blanc-Sec, erfunden von [2][Jacques Tardi]. In krassem Kontrast zu
dem, was sonst üblich war, tritt sie fast immer hochgeschlossen auf. Sie
muss sich nicht ausziehen, um zu gefallen, und sie ist auch keine
Nebenfigur. Sie ist Schriftstellerin und die Heldin ihrer Serie. Sie
raucht, trinkt und legt die Füße auf den Tisch.
Darunter, dass sie alleine lebt, ohne love interest, scheint sie nicht zu
leiden. Die unglaublichen Geschehnisse, in die sie verwickelt wird,
durchlebt sie mit cooler, fast schon stoischer Resilienz.
## Serie in einer dreibändigen Gesamtausgabe
Die ersten fünf „Adele“-Bände erschienen in schneller Folge zwischen 1976
und 1980. Danach wurden die Abstände immer größer, weil der 1946 geborene
Tardi zu einer Generation von Zeichnern gehört, die sich von dem Zwang,
einer Serie verpflichtet zu sein, zu emanzipieren suchte und
Einzelpublikationen bevorzugt. Der zehnte, abschließende Band kam erst im
letzten Herbst heraus. Jetzt liegt die Serie in einer dreibändigen
Gesamtausgabe vor, die der Schreiber & Leser-Verlag für die deutsche
Version um kenntnisreiche Vorworte ergänzt hat.
Die Abenteuer Adeles spielen in Paris zwischen 1911 und 1923. Am Anfang
taucht meistens ein Monster auf: ein Flugdinosaurier oder ein Urzeitmensch,
eine lebende Mumie, ein gigantischer Krake oder ein Minotaurus. Im
Anschluss daran entwickeln sich mehrere, ineinander verknäulte
Handlungsstränge, die nicht nur das Lesepublikum, sondern auch die Heldin
perplex sein lassen können: „Was für ein Durcheinander!“, seufzt Adele
schon am Ende des ersten Bandes.
Manches wird nicht auserzählt, und dafür, Ereignisse oder das Verhalten von
Figuren schlüssig zu motivieren, interessiert sich Tardi nur bedingt. Wenn
ein Mad Scientist Adele unerbittlich mit seinem Hass verfolgt, dann – wie
eine andere Figur erklärt – hasst er sie halt; mehr ist da nicht zu sagen.
## Fantomas und Vampire als Vorbild
„Adele“ ist eine Mischung aus Pastiche und Parodie. Einerseits orientiert
Tardi sich an der französischen Pulp Fiction der Belle Époque und ihrer
Folgejahre: an der Kioskliteratur, den Romanen Gaston Leroux’ („Das Phantom
der Oper“, 1910) und den von den Surrealisten hochgeschätzten Serials Louis
Feuillades („Fantômas“, 1913–1914, „Les Vampires“, 1915–1916). Hin…
Verweise auf Poe und Sherlock Holmes, auf Frankenstein und King Kong.
Andererseits nimmt Tardi das, was er erzählt, permanent auf die Schippe:
durch Übersteigerung ins Haarsträubende und Groteske, durch ironisierende
Dialoge und Blocktexte. Gleich fünf Mal steht über einem Panel, das den
Pariser Justizpalast zeigt, dass „dessen mittelalterliche Türme sich wie
Galgen abzeichnen: düstere Symbole für Unterdrückung und Willkür“.
So wenig dieses Pathos ernst gemeint ist, deutet es zugleich auf die
linken, anarchistischen Überzeugungen Tardis, die mehrfach aufblitzen. Die
diversen Mad Scientists sind Witzfiguren, aber auch das Verbindungsglied
zwischen dem furchtbaren Arzt in Büchners „Woyzeck“ und einem Dr. Mengele.
Am Ende des vierten Bandes beginnt der Erste Weltkrieg, dem Tardi mehrere
Comics gewidmet hat.
Das vorletzte Panel ist schwarz; das letzte zeigt mit Bajonetten versehene
Gewehrschäfte, die emporgereckte Skelettarme assoziieren lassen. Und wenn
sich im Abschlussband Mumien ausgerechnet in der Academie française zu
einer Tagung zusammenfinden, ist nicht schwer zu erschließen, was Tardi von
dieser ehrwürdigen Institution hält.
## Verbindung zu Tim und Struppi
„Adele“ ist kein Comic für Kinder, zeigt aber, wie sehr Tardi dem Erbe
Hergés verpflichtet ist. Seine Art, Menschen zu zeichnen, ist etwas
realistischer, hat aber noch ein Semi-Funny-Gepräge. An einer Stelle
zitiert er direkt aus „Tim und Struppi“: In „Die sieben Kristallkugeln“
erscheint Tim die Mumie eines Inkakönigs im Traum; ebenso ergeht es Adele
mit einem assyrischen Dämon.
Mit Hergé verbindet Tardi zudem die dokumentarische Sorgfalt in Bezug auf
Schauplätze. In die Geschichte der Comics wird er auch als Chronist eines
vergangenen Paris eingehen. Liest man die 475 Seiten von „Adele“ am Stück,
kann die unablässige Folge von irrwitzigen Vorfällen, Twists und
Enthüllungen ein wenig ermüden.
Zum Hineinträumen sind dafür stets die Bilder von Paris, das Tardi gerade
nicht als Stadt der Lichter zeigt, sondern in Noir-Stimmungen: in der
Nacht, verschneit oder, am schönsten, in dichtem Regen.
5 Feb 2023
## LINKS
[1] /Neue-Agrippina-Comics-auf-Deutsch/!5226289
[2] /Comiczeichner-Jacques-Tardi-in-Basel/!5565975
## AUTOREN
Christoph Haas
## TAGS
wochentaz
Französischer Comic
Graphic Novel
Jacques Tardi
Monster
Fantasy
Literatur
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Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
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