| # taz.de -- Roman „Der Freund“ von Sigrid Nunez: Durchbruch mit Dogge | |
| > Sigrid Nunez’ Roman „Der Freund“ handelt von Trauerarbeit und der | |
| > Bedeutung von Literatur. Und erzählt von einer ungewöhnlichen | |
| > Freundschaft. | |
| Bild: Tiere können vielleicht keinen Suizid begehen, aber „ihre Herzen könn… | |
| Neu ist die Story nicht: Wahlweise ein Kind oder Hund tritt zufällig in das | |
| Leben eines einsamen Menschen (meistens ein Mann) und zwingt ihn dazu, sich | |
| auf den neuen Gefährten einzulassen und somit das Leben umzukrempeln. Vor | |
| allem im Film wird diese Konstellation immer wieder aufgewärmt. Was also | |
| macht „Der Freund“, den siebten Roman der US-amerikanischen Autorin Sigrid | |
| Nunez, trotz seines allzu bekannten Sujets so besonders? | |
| Der Ausgangspunkt ist erst einmal ein tragischer: Der beste Freund der | |
| Ich-Erzählerin nimmt sich das Leben. Noch bevor sie einen Weg findet, mit | |
| seinem Tod umzugehen, meldet sich seine letzte Ehefrau: Der Verstorbene | |
| hinterlässt eine achtzig Kilo wiegende arthritische Dogge. | |
| Mit der Begründung, sie sei ein Katzenmensch, wehrt die Protagonistin | |
| dieses unfreiwillige Erbe ab, in ihrer 45 Quadratmeter großen Wohnung sei | |
| kein Platz für einen Hund, der Mietvertrag verbiete es obendrein. Aber am | |
| Ende – die Alternative wäre Hundepension oder Tierheim – landet die Dogge | |
| doch bei ihr. Apollo heißt sie. | |
| Apollo, stellt sich heraus, leidet unter dem Tod seines Herrchens fast mehr | |
| als die Protagonistin. Tiere könnten vielleicht keinen Suizid begehen, aber | |
| „ihre Herzen können brechen, und sie tun es“. Sehr langsam nur erwacht die | |
| Dogge aus ihrer Apathie, sehr langsam nähern sich Hund und Frau an und | |
| trösten sich durch die bloße Anwesenheit des anderen. „Was sind wir, Apollo | |
| und ich, wenn nicht zwei Einsame, die einander schützen?“ | |
| ## Lady Gaga und Ted Bundy | |
| Sigrid Nunez’ „Der Freund“, ins Deutsche übertragen von Anette Grube, | |
| erzählt aber nicht nur von dieser ungleichen Freundschaft, mehr noch ist | |
| dies ein Roman über das Schriftstellerinnendasein und das Schreiben. Wie | |
| ihr toter Freund ist auch die namenlose Erzählerin Autorin, und sie lässt | |
| viele Reflexionen über die Bedeutung von Literatur einfließen, zitiert | |
| Rilke, Flannery O’Conner, George Simenon, Virginia Woolf und W. G. Sebald, | |
| verweist aber auch auf Lady Gaga und Ted Bundy. | |
| Dies geschieht oft in assoziativen, kurzen Absätzen, dann wieder liest sich | |
| der Roman so intim und nah wie ein Tagebuch. Nunez’ Protagonistin | |
| beleuchtet auch die Kulturgeschichte von Mensch und Hund. Die Autorin | |
| erwähnt wahre Geschichten von Hunden, die ihren Besitzer:innen über deren | |
| Tod hinaus treu blieben – wie der Hund Hachikō, der zehn Jahre lang täglich | |
| an einem Tokioter Bahnhof wartete, an dem er zuvor Tag für Tag sein | |
| Herrchen abgeholt hatte. | |
| Fast der gesamte Roman ist adressiert an den verstorbenen Freund, dessen | |
| Tod die Ich-Erzählerin nur schwer akzeptieren kann. „Du warst nicht mehr | |
| da, aber nicht tot“, so empfindet sie zumindest. „Eher so, als ob du | |
| verschwunden wärst.“ Am Ende bleibt die Angst, durch dieses Buch, diesen | |
| langen Brief dazu beizutragen, den Freund so, wie er wirklich war, zu | |
| vergessen. | |
| Ein Paradoxon? Möglicherweise, aber sie ist sicher, dass „Schreiben und | |
| Fotografieren mehr von der Vergangenheit“ zerstörten „als sie bewahren“. | |
| Und: „Indem man über jemanden schreibt, den man verloren hat – oder auch | |
| nur viel über ihn spricht –, beerdigt man ihn endgültig.“ | |
| Die Grenzen zwischen Roman, Essay und Memoire in „Der Freund“ sind | |
| fließend. Es ist leicht, Überschneidungen zwischen Nunez und ihrer | |
| Protagonistin zu finden, die wie sie Autorin und Dozentin für Creative | |
| Writing ist und in der Nähe des Manhattaner Union Square lebt. Auch das | |
| thematisiert der Roman. „Ich gehe nie automatisch davon aus“, erklärt die | |
| Erzählerin einem ihrer Studenten, „dass ein Werk autobiografisch ist.“ | |
| Woraufhin dieser verblüfft entgegnet: „Über wen soll ich denn sonst | |
| schreiben?“ | |
| ## National Book Award eingeheimst | |
| Mit „Der Freund“ gelang Sigrid Nunez, Jahrgang 1951, der späte Durchbruch. | |
| Nunez, die bereits sieben Bücher verfasst hatte, darunter ein Memoire über | |
| Susan Sontag, mit deren Sohn David Rieff sie zusammen war, blieb der ganz | |
| große Erfolg bisher verwehrt. „Der Freund“ schaffte es aber nun auf die | |
| Bestsellerliste der New York Times, zudem bekam sie 2018 den National Book | |
| Award verliehen. | |
| Ein Glück, dass diese Autorin endlich entdeckt wurde. Denn ihr gelingt in | |
| diesem Roman der erstaunliche Drahtseilakt, von einer trauernden Frau, | |
| einem trauernden Hund und der wachsenden Freundschaft zwischen den beiden | |
| zu erzählen, ohne auch nur ein einziges Mal in Sentimentalitäten oder | |
| Kitsch abzurutschen. | |
| Die vielen literarischen, historischen und popkulturellen Bezüge, die Nunez | |
| herstellt, die Zitate über Literatur, Trauer, Tod und die Beziehung von | |
| Mensch und Hund, bereichern diesen warmen, mitunter humorvollen Roman auf | |
| vielen Ebenen; sie wirken niemals überladen oder zu gewollt. Und genau das | |
| ist es auch, was „Der Freund“ von anderen Büchern und Filmen mit ähnlicher | |
| Handlung unterscheidet. | |
| 2 Feb 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Isabella Caldart | |
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