# taz.de -- Roman der US-Autorin Sigrid Nunez: Im Lockdown mit Papagei | |
> In einer unfreiwilligen WG bekommt das Älterwerden eine neue Dynamik – | |
> darum geht es im Roman „Die Verletzlichen“ von Sigrid Nunez. | |
Bild: Tiere sind wichtig bei Sigrid Nunez. In „Der Freund“ ging es um einen… | |
Dieser Roman erzählt keine Geschichte, vielmehr einen Zustand: In | |
[1][Sigrid Nunez’] neuem autofiktionalen Buch „Die Verletzlichen“ findet | |
sich eine Universitätsdozentin und Schriftstellerin im Frühjahr 2020 in | |
einem leergefegten New York wieder. Als eine der wenigen aus ihrem | |
Bekanntenkreis harrt sie in den ersten Covid-19-Monaten in der Metropole | |
aus. Wer es sich leisten kann, hat den amerikanischen Melting Pot der | |
Pandemie verlassen, sich in ein Landhaus zurückgezogen oder in luxuriösen | |
Penthouses verbarrikadiert. | |
Sich vor dem Virus zu schützen ist eben auch eine Klassenfrage: „‚Die | |
Mittelschicht versteckt sich, während die Arbeiterklasse ihnen die Sachen | |
bringt.‘ Eine andere Version: Weiße verstecken sich, während schwarze und | |
braune Menschen ihnen die Sachen bringen.“ | |
Für die Mittsechzigerin ist es ein Segen, dass die wohlhabende Freundin | |
einer Freundin, die in Kalifornien bei ihrem Schwiegervater gestrandet ist, | |
eine Sitterin für ihren anspruchsvollen Papagei sucht. | |
Nunez’ Erzählerin ahnt, dass so eine alltagsstrukturierende Aufgabe in der | |
Isolation Trost spendet und Depressionen vorbeugt – also zieht sie | |
kurzerhand in das Luxusapartment der Bekannten und findet Erfüllung darin, | |
mit dem Ara namens Eureka Freundschaft zu schließen. Das Tier will nicht | |
nur gefüttert werden, sondern vor allem unterhalten – Papageien sind | |
intelligente Wesen, denen Langeweile zusetzen würde. | |
## Tiere sind ihr Thema | |
Eine Win-win-Situation also. Eigentlich ist das fast alles, was in diesem | |
Roman geschieht. Aber natürlich ereignen sich die eigentlichen Dinge | |
unterhalb der Plot-Ebene. Nicht nur die Nähe zu einem Tier, sondern auch | |
die Themen, die verhandelt werden, erinnern dabei an [2][Nunez’ | |
Erfolgsroman „Der Freund“]. | |
„Die Verletzlichen“, der Titel spielt auf die vulnerable Gruppe von | |
Menschen während der Pandemie an, ist ein geradezu kathartisches Buch. Es | |
geht um das Erinnern. Das Ich erinnert sich an eine gerade verstorbene | |
Freundin, an Gespräche, an die Kindheit. „I remember“ heißt ein Buch von | |
Joe Brainard, das für die Erzählerin eine immense Bedeutung hat (vor | |
einigen Jahren übrigens beim Verlag Walde und Graf in deutscher Übersetzung | |
erschienen). | |
Wie überhaupt Bücher und Autor:innen in „Die Verletzlichen“ die Sonden | |
sind, mit denen tief in Themen wie Einsamkeit, Alter, Krankheit und Tod | |
vorgedrungen wird – mit einem hellwachen, interessierten Blick, mit einer | |
unabdingbaren Melancholie. | |
Von Georges Perec über Joan Didion bis zu Günter Grass reichen die | |
Referenzen, ein Lexikon der Vergewisserung; aber auch die Suche nach | |
Erlösung von der Ungewissheit. Wenn die Gegenwart ereignislos oder absurd | |
wird – Donald Trump lügt sich gerade durch seine verheerende Regierungszeit | |
–, übernimmt die Erinnerung. Die eigenen Archive werden nach und nach | |
geöffnet und geplündert, um zu sehen, welche hilfreichen Entdeckungen darin | |
zu machen sind. | |
## Testosteron is all around | |
Das gelingt ganz gut, bis doch noch etwas geschieht, was die Erzählerin | |
verstört, gar aus der Bahn wirft. Ein junger, gutaussehender, höchst | |
privilegierter Collegestudent, der sich zunächst um den Papagei kümmern | |
sollte, aber dann überstürzt abgereist war, kehrt in die Wohnung zurück. Er | |
ist zu selbstsicher, beansprucht zu viel Raum, obwohl das Apartment mehr | |
als genug Platz für zwei bieten würde. Testosteron is all around. | |
Eine Freundin, mit der die Erzählerin telefoniert, erkennt schneller als | |
sie selbst, was das Problem ist: „Da lebst du in großer Nähe zu diesem sehr | |
attraktiven, sehr sexy jungen Mann, eine unübersehbare Erinnerung an das, | |
was du nicht mehr haben kannst, was du verloren hast, dieser aufregende | |
Teil des Lebens, der jetzt hinter dir liegt und nie wiederkommt, und obwohl | |
es nicht sein Fehler ist, gibst du ihm die Schuld.“ | |
Durch die unfreiwillige Wohngemeinschaft bekommen das Denken und die Lage | |
der Schriftstellerin noch einmal einen neuen Dreh und die | |
Auseinandersetzung mit dem Älterwerden eine neue Dynamik. Möglicherweise | |
gibt es sogar so etwas wie eine Läuterung oder zumindest ein Einverständnis | |
mit dem Lauf der Dinge. | |
Aber das wird eher angedeutet, wie dieses kluge, zwischen Roman, Essay und | |
Memoir oszillierende Buch ohnehin ein sehr subtiler Versuch ist, Außen- und | |
Innenwelt in einer unvorstellbaren Situation behutsam abzubilden. | |
Aufblitzende Anekdoten und Erinnerungsfragmente, Zweifel, | |
Wirklichkeitsschock und Wirklichkeitsflucht erzeugen eine Erfahrung des | |
Verlusts, die zugleich tröstliche Momente bereithält. | |
## Gelungenes Buch zur Pandemie | |
Die Erzählerin steht außerhalb der Zeit – wie wir in der Pandemie alle aus | |
unseren gewohnten Rhythmen geworfen waren –, um das Vergehen der Zeit nur | |
umso drastischer wahrzunehmen. Die Genauigkeit der Selbstbefragung, der | |
nüchterne, offene Ton, die Verwundbarkeit machen „Die Verletzlichen“, | |
hervorragend übersetzt von Anette Grube, zum vielleicht gelungensten Buch, | |
das bislang über die Coronajahre erschienen ist. | |
20 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Rüdenauer | |
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