| # taz.de -- Erzählungen von Ottessa Moshfegh: Urlaub in der Vorhölle | |
| > Ottessa Moshfegh erzählt in „Heimweh nach einer anderen Welt“ | |
| > Alltagsstories mit surrealen Zügen. Wer es fies und bitterböse mag, wird | |
| > sie lieben. | |
| Bild: Mr. Wu treibt sich in Ottessa Moshfeghs Erzählung in Spielhallen herum. … | |
| In einer Passage ihres Erzählungsbands „Heimweh nach einer anderen Welt“ | |
| beschreibt Ottessa Moshfegh einen kleinen Ort namens Alna im US-Bundesstaat | |
| Maine. | |
| Die Ich-Erzählerin, eine Englischlehrerin, verbringt dort jedes Jahr ihre | |
| Sommerferien, und was sie berichtet, klingt wie ein Urlaub in der Vorhölle: | |
| „Man stelle sich eine leere Straße mit einem Autowrack vor, im Rinnstein | |
| vergessen das rostige Dreirad eines Kindes, eine alte, faltige Frau, die | |
| sich beim Sprengen ihres graubraunen Rasens kratzt, den Gartenschlauch um | |
| die geballte Faust gewickelt.“ | |
| Auf der Straße sieht sie „wilde Teenies, hinkende Männer, blutjunge Mütter, | |
| Kinder, die auf dem Beton herumwuselten wie Tauben oder die [1][trägen | |
| Ratten] vor Ort.“ | |
| Zum einen ist diese Beschreibung typisch für den Sound von Ottessa Moshfegh | |
| – die US-Autorin hat einen gnadenlosen, scharfen und genauen Blick auf | |
| Menschen, Orte und Gegebenheiten. Zum anderen steht dieses Alna pars pro | |
| toto für die 14 Geschichten, die Moshfegh in ihrem nun auf Deutsch | |
| erschienenen Buch erzählt – sie alle könnten an solch einem trostlosen, | |
| heruntergekommenen Ort spielen. | |
| ## Einsam, schüchtern, schambehaftet | |
| Die alltäglichen US-Abgründe der Gegenwart sind ihr Thema, die große Stärke | |
| der in Massachusetts aufgewachsenen Schriftstellerin, die 2018 mit ihrem | |
| Tranquilizer-Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ von sich reden | |
| machte, sind dabei die plastischen Beschreibungen. Sie kippen nie ins | |
| Banale, vielmehr driften sie ab ins Groteske oder Bitterböse. | |
| Wie in der Story von „Mr. Wu“. Ihr Protagonist ist ein einsamer, | |
| schüchterner, schambehafteter Mann, der täglich die Spielhalle aufsucht und | |
| sich in eine dort arbeitende Frau verliebt. Er traut sich nicht, mit ihr zu | |
| reden, schreibt ihr dagegen anonyme SMS. Mr. Wus einziger sonstiger Kontakt | |
| zu Frauen ist der zu Prostituierten, und das, obwohl ihm doch „alles | |
| Geschlechtliche peinlich“ ist. | |
| Seine Pein löst sich schließlich in einer uneingestandenen erotischen | |
| (Gewalt-)Fantasie: „Er beschloss, dass er so mit der Frau Liebe machen | |
| würde – mit seinen Fingern in ihrem Hintern (…) Das erstickte Quieken der | |
| Prostituierten erregte ihn. Er zog die Finger aus ihrem Hinterteil und | |
| steckte sie in seinen eigenen Mund. Er konnte nicht glauben, wie viel | |
| Freude er sich selbst bereitet hatte. Tränen traten ihm in die Augen.“ Dass | |
| er die große Liebe aus der Spielhalle nicht mehr treffen wird, scheint von | |
| Beginn an klar. | |
| In der eingangs erwähnten Story dagegen überzeichnet Moshfegh bewusst das | |
| gesamte Setting: In Alna gibt es Heroin und Meth an jeder Straßenecke zu | |
| kaufen, als Haushaltshilfe beschäftigt die Erzählerin einen schwangeren | |
| Teenie, im Stadtzentrum trifft sie auf die „Zombies“ mit ihren | |
| „Wolfshunden“. | |
| Ob es überhaupt Parallelen zum realen Alna gibt – einem Dörfchen mit 700 | |
| Einwohnern –, bleibt unklar. Der ironische Titel der Geschichte – „Ich | |
| mische mich unters gemeine Volk“ – ist die Spitze des Ganzen. | |
| ## Perfekt ist doch langweilig | |
| Fieser Humor zieht sich ohnehin durch die Geschichten – nachzulesen etwa in | |
| der Story „Malibu“, wo sich zwei zukünftige Liebende einander mit folgendem | |
| Dialog annähern: „ ‚Ich habe Pickel‘, sagte ich. ‚Und am ganzen Körper | |
| Ausschlag. Meine Zähne sind auch nicht die Besten.‘ “ – ‚Ich habe keine | |
| großen Ansprüche. Außerdem mag ich keine perfekt aussehenden Männer. Da | |
| komme ich mir immer wie der letzte Dreck vor, und langweilig sind sie | |
| auch‘, antwortete sie. – ‚Klingt doch gut‘, sagte ich.“ | |
| Moshfeghs Figuren entsprechen dabei kaum mal gängigen Schönheitsidealen. | |
| Nicht selten ekeln sich die Figuren vor ihren eigenen Körpern und jenen | |
| ihrer (Sexual-)Partner. | |
| Man könnte nun denken, Moshfegh stelle ihre Figuren aus, gebe sie der | |
| Lächerlichkeit preis, setze auf billige Effekte. Nichts davon ist der Fall. | |
| Im Gegenteil, man ist als Leser empathisch mit diesen Figuren, man ist nah | |
| bei ihnen, will wissen, woher ihre Eigenheiten, Spleens und Beschädigungen | |
| rühren. Genauso könnte man glauben, Moshfegh halte sich mit | |
| Zustandsbeschreibungen auf. | |
| Ihr geht es aber ganz sicher um alles andere als um Authentizität. Sie | |
| versucht erst gar nicht, Authentizität zu behaupten. Ihre kleinen, | |
| abgedrehten Geschichten nehmen manchmal surreale Züge an und erinnern eher | |
| an große US-Erzähler wie Charles Bukowski, Raymond Carver, Richard Yates | |
| oder [2][T. C. Boyle]. Vielleicht liefert Moshfegh mit diesem drastischen | |
| Sound auch ein willkommenes Gegengewicht zu all den florierenden | |
| Betroffenheitsliteraturen und Opfererzählungen der Gegenwart. | |
| 23 Feb 2020 | |
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