| # taz.de -- Theater ohne Hoffnung: Zwischen den Knästen | |
| > Beklemmendes Porträt einer kaputten Gesellschaft: Elsa-Sophie Jach | |
| > inszeniert am Theater Bremen Ottessa Mosfeghs Roman „Eileen“ | |
| Bild: Familiäre Zumutungen: Eileen in jung und nicht mehr jung mit ihrem Vater… | |
| Bremen taz | Sie ist schwer zu ertragen, diese Anspannung, die sich | |
| unmittelbar in der ersten Szene einstellt und über volle zwei Stunden nicht | |
| wieder nachlassen wird. Passieren tut dabei zunächst nicht viel – im Grunde | |
| gar nichts. Wir lernen Eileen kennen, wie sie ununterbrochen behauptet, | |
| dass gerade hier und jetzt diese große Sache am Laufen sei, die ihr Leben | |
| für immer verändert. Nun ist es kein Geheimnis, dass eine versprochene | |
| Katastrophe in Sachen Spannung mehr hermacht als eine echt eingetretene. | |
| Und ein bisschen dürfte auch der Countdown zum Gelingen beitragen: Der | |
| prangt hoch über der Bühne und zählt in Leuchtschrift die letzten Tage | |
| runter. | |
| Was genau später so knallt, darüber schweigt sich auch Ottessa Moshfeghs | |
| Roman „Eileen“ – 2015 im Original erschienen, 2017 auf Deutsch – über … | |
| ersten 250 Seiten so lustvoll wie kunstfertig aus. Regisseurin Elsa-Sophie | |
| Jach macht’s mit ihrer Adaption am Bremer Theater nicht anders: Stoisch | |
| legt sie dar, wie Titelfigur Eileen in einer zu X-ville anonymisierten | |
| Kleinstadt an der US-amerikanischen Ostküste vor sich hinvegetiert. Noch | |
| lebt sie bei ihrem trinkenden Vater, säuft selbst zu viel, arbeitet im | |
| Jugendknast und ergibt sich ihrem zwar nach- aber kaum mitfühlbaren | |
| Selbstmitleid. | |
| Auf der Bühne geschieht das gleich doppelt: Shirin Eissa spielt Eileen als | |
| Mittzwanzigerin in bockiger Sperrigkeit schmollend und kühl. Irene | |
| Kleinschmidt interpretiert sie hingegen als alte Frau in Rückschau auf ihre | |
| letzte Woche in X-ville; lebenserfahrener, aber genauso unversöhnlich – und | |
| immer noch genauso selbstgerecht. Das wäre auch gleich die erste | |
| Erkenntnis: dass es ein Triumph sein kann, sich aus unerträglichen | |
| Zuständen herauszuarbeiten, gar eine Heldentat. Aber herzlicher wird man | |
| davon ganz sicher nicht. | |
| Moshfeghs Roman verhandelt familiäre Gewalt, die Ohnmacht von Frauen, den | |
| Staat als Aussonderungs- und Unterwerfungsmaschine, den Knast. Und weil er | |
| in den 1960ern spielt, braucht sie dafür auch keine Beweisführung und | |
| Entlarvung mehr zu leisten: Wir wissen das alles längst und die Autorin | |
| weiß, dass wir es wissen. Darum ist es auch so fies, Eileen – zur | |
| Erinnerung: Sie ist Knastsekretärin – dabei zuzuhören, wie sie für | |
| Schließer Randy und seine Schmalzlocke schwärmt, wenn sie nicht gerade die | |
| Mütter weggesperrter Jungs aus Langeweile mit sinnlos-bürokratischem | |
| Firlefanz quält. | |
| Die alt gewordene Eileen mag das dann durchschauen: Manchmal werde ihr | |
| sogar schlecht, sagt sie einmal, „wenn ich daran denke, dass ich ein | |
| bisschen in den Gefängnisdirektor verknallt war“. Nur geht es auch in | |
| solchen Momenten ausschließlich um sie selbst: „Jeder Anflug von Macht | |
| beeindruckte mich.“ | |
| ## Keine Reform zum Guten | |
| Diese Geschichte hat kein Außen, verspricht kein Aufbegehren und schon gar | |
| keine Reform zum Guten. Marlene Lockemanns Bühne folgt ihr darin: Rechts | |
| steht ein schneebedecktes Haus wie eine Höhle oder ein Iglu, daneben eine | |
| Rampe rauf zum Knast, der an einen Ofen erinnert. Und dann endet sie | |
| einfach hinter einem schmalen Steg bei Eileens kaputtem Auto, vor dessen | |
| Fenster sich eine Straßenansicht auf Leinwand abrollen lässt – von Hand in | |
| Endlosschleife. | |
| Genauso konsequent wie die Bühne – genauso genial – fällt die Besetzung | |
| aus. Während die beiden Eileens einander ihre garstigen Bälle zuspielen, | |
| teilen sich zwei weitere Schauspieler:innen den Rest. Mirjam Rast | |
| spielt die grässliche alte, aber auch die betörende, neue Kollegin und | |
| deutet subtil ihr Gemeinsames aus. | |
| Das ist kein Zufallstreffer wie Siegfried W. Maschek beweist, der parallel | |
| die Grenzen familiärer Zumutungen auslotet: Er spielt Eileens Vater als | |
| hilfsbedürftig säuselndes Ungeheuer, balanciert zugleich aber genauso | |
| souverän an den Abgründen einer Mutterfigur entlang, die aus Sehnsucht und | |
| Verlassensein zur Komplizin bei der Vergewaltigung ihres eigenen Sohnes | |
| wurde. Mag sein, dass die Verzahnung im Finale des Romans bereits angelegt | |
| war – grandios zur Geltung kommt sie aber erst hier auf der Bühne. | |
| Ihre gesellschaftliche Dimension machen dabei weder der Roman noch die | |
| Stückfassung explizit. Was beide Texte zwischen den Zeilen auswalzen, setzt | |
| Jachs Inszenierung mithilfe einer Kamera in Szene, mit der Cantufan Klose | |
| neben der Doppelung des Geschehens auch unter Livebedingungen noch die | |
| Deutung stemmt. Der stärkste Moment: Wie er beim Geständnis des | |
| Muttermonsters schräg unter ihre starre Halbmaske filmt. Die mag für sich | |
| eine ausgelutschte Metapher sein, zwischen „Halloween“ und „Texas Chainsaw | |
| Massacre“. Das schweißnasse Stück Plastik gerät aber doch zum Leben, als es | |
| unterm Scheinwerfer in Großaufnahme wieder an abpellende Haut erinnert. | |
| An dieser Schwelle zwischen Mensch, Maske, Metapher und Monster erzählt sie | |
| dann, wie (und vor allem: warum) sie vor den Vergewaltigungen mit dem | |
| Jungen nach oben ging und ihm Einläufe verpasste. Ihr Geständnis wird noch | |
| detaillierter, geht minutenlang und ist kaum zu ertragen. Auch Eileen und | |
| ihre eben noch als werdende Knastreformerin vorgestellte Kollegin Rebecca | |
| haben keine Lösung parat – nur eine Pistole in der Hand. | |
| Was am Ende bleibt: Eine radikale Weigerung, mit den dargelegten Klischees | |
| herumzuulken oder sie (schlimmer noch) irgendwie soziologisch zu | |
| entschärfen. Manchmal muss man nicht weiter reinschauen, sondern auch | |
| Abziehbilder an der Oberfläche lesen lernen. Und dann entfaltet sich das | |
| mutig über zwei Stunden versprochene Verhängnis mit beklemmender Wucht. | |
| Eileen schafft es irgendwie raus, aber das war ja von Anfang an klar. | |
| Aufwühlender ist die Erkenntnis, dass alle anderen solche Fluchtwege erst | |
| noch erfinden müssen: aus ihren eigenen Familien, ihren Knästen und ihren | |
| X-villes. | |
| 12 Feb 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan-Paul Koopmann | |
| ## TAGS | |
| Politisches Theater | |
| Bremer Theater | |
| Theater Bremen | |
| Theater | |
| Theater | |
| Literatur | |
| Theater Bremen | |
| Roman | |
| Charles Bukowski | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Politisches Theater in Bremen: Mit Brecht im Leerstand | |
| In einem leer stehenden Bremer Haus inszeniert Antigone Akgün einen | |
| zornigen Theaterabend. Verhandelt werden aktuelle Wohnraumdebatten. | |
| Roman „Einhandsegeln“ als Theaterstück: „Das ist eine andere Daseinsform… | |
| Segeln als Metapher: Im Hamburger Thalia-Theater kommt der Roman | |
| „Einhandsegeln“ von Christian Kortmann als innerer Monolog auf die Bühne. | |
| Interkultur-Zuständige am Bremer Theater: „Ich bin keine Kontrolleurin“ | |
| Ferdaouss Adda ist Referentin für interkulturelle Öffnung am Theater | |
| Bremen. Der taz erklärt sie, wozu eine solche Stelle gut ist. | |
| Neuer Roman von Ottessa Moshfegh: Ein aufgewühlter Neuanfang | |
| Was ist wahr, was nur ausgedacht? Der Ich-Erzählerin in Ottessa Moshfeghs | |
| Roman „Der Tod in ihren Händen“ ist nicht zu trauen. | |
| Erzählungen von Ottessa Moshfegh: Urlaub in der Vorhölle | |
| Ottessa Moshfegh erzählt in „Heimweh nach einer anderen Welt“ | |
| Alltagsstories mit surrealen Zügen. Wer es fies und bitterböse mag, wird | |
| sie lieben. |