# taz.de -- Neuer Roman von Ottessa Moshfegh: Ein aufgewühlter Neuanfang | |
> Was ist wahr, was nur ausgedacht? Der Ich-Erzählerin in Ottessa Moshfeghs | |
> Roman „Der Tod in ihren Händen“ ist nicht zu trauen. | |
Bild: Die US-Autorin Ottessa Moshfegh hat einen Sinn für schräge Ich-Erzähle… | |
Nein, es ist tatsächlich kein Druckfehler, bestätigt eine E-Mail des | |
Verlags. Zu Beginn des Romans „Der Tod in ihren Händen“ von Ottessa | |
Moshfegh erwähnt die Ich-Erzählerin mehrmals ihren Namen: Vesta Guhl – wie | |
das Shampoo, heißt es einmal. Und plötzlich ist nur noch von Ghul die Rede. | |
Beiläufig ist das h nach vorne gewandert, interessanterweise nachdem Ghod, | |
das Böse, erwähnt wurde. Ghod wie der Gholem, wie God, nur mit h. | |
Eigentlich wäre die Mail gar nicht nötig gewesen. Denn Vesta Guhl denkt so | |
viel über Namen nach, dass ein Flüchtigkeitsfehler kaum vorstellbar ist. | |
Schon der erste Satz präsentiert einen Namen: „Her name was Magda“ – „… | |
hieß Magda“, steht auf einem von Steinen beschwerten Zettel, den Vesta beim | |
Spaziergang mit ihrem Hund Charlie im Wald entdeckt. Er stößt alles Weitere | |
an – denn Magda, auch das erwähnt der Zettel, ist tot: „Niemand wird je | |
erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche.“ | |
Was so nicht stimmt, denn zumindest in unmittelbarer Nähe der Nachricht | |
liegt keine Magda. Vesta macht sich auf die Suche nach der Geschichte | |
hinter der Nachricht. Aber ist einer Erzählerin, die einfach ihren Namen | |
ändert, wirklich zu trauen? | |
Vom Zeitpunkt seiner Veröffentlichung her ist „Der Tod in ihren Händen“ d… | |
dritte Roman der 1981 in Boston geborenen Tochter kroatisch-persischer | |
Eltern, die der New Yorker als „locker die interessanteste zeitgenössische | |
amerikanische Autorin zum Thema ‚Leben, wenn Leben sich schrecklich | |
anfühlt‘“ preist. Moshfeghs Debütroman „Eileen“ über eine junge Frau | |
zwischen ihrem Job in der Jugendstrafanstalt und häuslicher Tristesse mit | |
einem Alkoholikervater landete 2015 gleich auf der Shortlist zum Booker | |
Prize. | |
Stoische Coolness | |
2018 erschien „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“, die Geschichte einer | |
jungen, glamourösen New Yorker Erbin, die in einer Kunstgalerie jobbt und | |
sich nach dem Tod ihrer Eltern – der Vater ist an Krebs gestorben, die | |
Mutter hat sich kurz darauf das Leben genommen – mithilfe einer verrückten | |
Therapeutin in einen nahezu selbstmörderischen Dauernebel aus | |
Psychopharmaka, Beruhigungs- und Schlaftabletten versetzt. | |
Der Roman spielt um die Jahrtausendwende und listet, ganz im Geist der | |
Popliteratur jener Zeit, mit stoischer Coolness Whoopi-Goldberg-Filme, | |
Betäubungsmittel und traumatisierende Erinnerungen auf; von fern klingt | |
Bret Easton Ellis’ Roman „American Psycho“ an, den Moshfegh in Interviews | |
als wichtigen Einfluss nennt. | |
Tatsächlich entstand „Der Tod in ihren Händen“ vor den Romanen und der | |
[1][Short-Story-Sammlung „Heimweh nach einer anderen Welt“]. Sie habe es in | |
einer Krise – einsam und neu an der Westküste – für sich selbst | |
geschrieben, erklärt die Autorin im Gespräch mit der New York Times. Es | |
spielt Formen und Motive, die insbesondere in „Mein Jahr der Ruhe und | |
Entspannung“ wieder auftauchen, skizzenhafter und dichter zugleich durch – | |
mit einer völlig anderen Figur an einem entgegengesetzten Ort. | |
Eine dieser wiederkehrenden Formen ist die Erzählperspektive. Ottessa | |
Moshfegh schreibt in der Ich-Form, mit den Stimmen ihrer Figuren, so | |
verschieden sie auch sein mögen an Alter, Geschlecht, sozialen Umständen | |
und körperlichen Voraussetzungen. Das radikale Hineinkriechen in eine | |
Subjektivität und deren Bewusstseinsstrom gehört schon lange ins Repertoire | |
moderner Erzähltechniken, wird jedoch von Moshfegh mit beachtlicher | |
Konsequenz performt: Sie schneidet keine weiteren Stimmen dagegen, die eine | |
andere Perspektive in die Geschichte tragen könnten; im Fall von Vesta | |
Guhl/Ghul kommt es zudem nur zu spärlichen Begegnungen mit anderen Dramatis | |
Personae, deren Reaktionen ein helleres Licht auf die Erzählerin werfen | |
könnten. | |
Trostlose Gegend | |
Und als Leserin hat man schnell Grund zu misstrauen. Etwa vor einem Jahr | |
ist Vesta nach dem Tod ihres Mannes Walter mit Trosthund Charlie in den | |
Osten gezogen. Nichts hat die 72-Jährige im mittleren Westen gehalten, | |
weder Kinder noch Freunde oder ein einstiger Beruf. Levant heißt der neue | |
Ort, der so trostlos wirkt wie der Schädel des lokalen Einzelhändlers | |
Henry, dessen Entstellung durch eine Schusswundennarbe Vesta auf anderthalb | |
Seiten genüsslich schildert. Sie hat in der Nähe eine Pfadfinderinnenhütte | |
am Waldsee gekauft. Ein Neuanfang in der Wildnis, eine Walden-Erfahrung | |
nach langem, abgesicherten Hausfrauenleben. Wie muss man drauf sein, um | |
sich das zu trauen? | |
Vesta hat nicht allzu gründlich nach der angekündigten Leiche gesucht, aber | |
auch darauf verzichtet, die Polizei zu verständigen, der sie, warum auch | |
immer, zutiefst misstraut. Obwohl einer von ihnen, den sie später Ghod | |
nennt, ihr ausdrücklich rät, sich ein Telefon zuzulegen in einer Umgebung, | |
in der es vor White-Trash-Crackküchen nur so wimmele. Stattdessen nimmt | |
Vesta den Fall selbst in die Hand. Im Rechner der öffentlichen Bibliothek | |
im nahen Bethsmane fragt sie die Suchmaschine nach Magda – und bestellt | |
einen schwarzen Tarnanzug. | |
Was als Kriminalgeschichte beginnt, driftet so schnell in eine andere | |
Richtung, als Vesta beginnt, sämtliche Beteiligte im vermeintlichen | |
Mordfall zu imaginieren. Sie stellt sich Magda als junge Weißrussin von | |
spröder Attraktivität vor, ihr selbst nicht unähnlich, die als | |
Altenpflegerin jobbt und bei der Alleinerziehenden Shirley schwarz im | |
Keller wohnt, wo sich Sohn Blake, der Verfasser des Zettels, in sie | |
verguckt. In allen Einzelheiten malt sie sich Magdas Existenz aus, von der | |
missbräuchlichen Herkunftsfamilie bis zu skurrilen Humorvorlieben. „Ich bin | |
Dichterin“, erklärt sie Charlie. Nur der Täter fehlt. | |
Sind das erste Anzeichen von Alterswunderlichkeit, des Irrewerdens aus | |
Einsamkeit? Was hatte es mit ihrer symbiotischen Beziehung zum deutschen | |
Unidozenten Walter auf sich, dessen nicht sonderlich sympathisches Porträt | |
sich nach und nach zusammensetzt? Anfangs vermisst sie den Toten | |
schmerzlich, doch mit fortschreitender Erzählung werden ihre Erinnerungen | |
wütender, ja gehässig. | |
Meisterlich komponiert | |
Gerade als man sich leicht enttäuscht auf die neue Spur einzulassen beginnt | |
– okay, vielleicht doch kein mystery crime, sondern ein Ideenroman über die | |
Geburt der Kunst, des Erzählens aus der Einsamkeit? –, scheint die erzählte | |
Realität zu Vestas eigener Überraschung ihre fabulierten Theorien zu | |
bestätigen. Doch vielleicht erliegt man auch bloß bereitwillig Vestas | |
Gedankenwelt, die Ottessa Moshfegh in psychologisch meisterlich | |
komponierter Einfühlung wiedergibt: ein aufgewühltes Bewusstsein im | |
Übergang zu einer neuen Existenzstufe. | |
Was die junge New Yorkerin in „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ bei | |
maximaler Sedierung zu durchdämmern versucht, geht Vesta hellwach und | |
tollkühn an: Gerade noch durchgerüttelt von Trauer und Verlust, befreit sie | |
sich gegen Ende ihres Lebens aus langer, vielleicht selbst auferlegter | |
Angst und Knechtschaft brachial zu Schöpferkraft und Zerstörungslust. | |
Ausgerechnet vor dem Bildschirm des öffentlichen Bibliothekscomputers, an | |
dem gerade noch zwei Teenager nach Abtreibungsadressen gesucht haben, | |
sinniert Vesta über ihr seltsames Tun: „Der Tod erschien mir fragil wie | |
tausend Jahre altes, brüchiges Papier, eine falsche Bewegung, und alles | |
würde mir zwischen den Fingern zerfallen. Der Tod war wie ein alter mürber | |
Spitzenstoff. […] Eine Spinnwebe, die jeden Augenblick zerfallen konnte. | |
Das Leben war anders. Das Leben war robust. […] Es war vorlaut und | |
aufdringlich. Ein Klassenrüpel. Eine Barsängerin im hautengen | |
Paillettenkleid. Ein Lastwagen, der unaufhaltsam die Straße | |
hinunterdonnerte.“ Und: „… ich verlor den Faden. Worüber hatte ich gerade | |
nachgedacht? Wie schafften es die Menschen, mit ihrem Leben weiterzumachen, | |
als seien sie nicht auf allen Seiten vom Tod umgeben?“ | |
Bis zum Schluss hält Moshfegh uns in der geschmeidigen Übersetzung von Anke | |
Caroline Burger den Köder einer Doch-noch-Lösung des Falls vor die Nase, | |
auch wenn längst andere aufregende Fragen mit ihm konkurrieren. Man kommt | |
jedenfalls nicht umhin, dieses Buch mit geschärften Sinnen zu lesen. Nicht | |
mal ein wanderndes h entgeht einem, wenn es den Übergang von der scheuen | |
zur todesmutigen Vesta bedeutet. Und was mag noch von einer Autorin zu | |
erwarten sein, die gleich zwei davon im Nachnamen trägt? | |
26 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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