# taz.de -- Roman „Wohin gehst du, mein Leben?“: Wenn der Übersetzer spazi… | |
> Gabriel Josipovicis Roman „Wohin gehst du, mein Leben?“ erkundet das | |
> Potenzial von Literatur. Geschrieben ist er mit Leichtigkeit und | |
> britischem Witz. | |
Bild: Nachmittags ging der nach strengen Routinen lebende Protagonist stets spa… | |
Literatur, sagen geneigte Leser, ermöglicht einen anderen Blick auf die | |
Wirklichkeit. Im Entwerfen fiktiver oder im fiktionalisierten Nachzeichnen | |
echter Biografien kann das Leben reicher werden an Möglichkeiten. Die | |
erzählten möglichen Welten fügen den eigenen möglichen Welten, genauer, den | |
alternativen Wegen, die man im Leben beschreiten oder beschritten haben | |
könnte, weitere hinzu. | |
Literatur gilt dabei meist als Ergänzung des „gelebten“ Lebens. Sie kann | |
sich aber ebenso gut über das eigene Leben legen, es nahezu verdrängen. Ein | |
solches Verhältnis zur Literatur scheint der namenlose Protagonist von | |
Gabriel Josipovicis vor Kurzem auf Deutsch erschienenem Roman „Wohin gehst | |
du, mein Leben?“ zu haben. Diese Figur, ein Übersetzer, der schon im ersten | |
Wort des Buchs lediglich mit „er“ benannt ist, bleibt unscharf, auch wenn | |
auf den folgenden hundert Seiten viel von dessen Leben die Rede ist. | |
Der Erzähler dieses Buchs ist ein zurückhaltender Beobachter, der | |
wiedergibt, was der Protagonist seinen Freunden erzählt oder im | |
Zwiegespräch mit seiner Frau gern kontrovers erörtert, meist versehen mit | |
der wiederkehrenden Wendung „sagte er dann“. Vor allem berichtet der | |
Übersetzer, der in Wales mit seiner Frau auf dem Land lebt, den Gästen aus | |
seiner Vergangenheit, macht sein Leben damit selbst zur Erzählung. | |
Früher war er schon einmal verheiratet, seine erste Frau ist jung | |
gestorben. Danach lebte er einige Jahre allein in Paris, seine Tage brachte | |
er mit Übersetzen zu, nachmittags ging er spazieren, wobei sein Tagesablauf | |
strengen Ritualen folgte. | |
## Mit Französisch als Kind aufgewachsen | |
Wenig ist die Rede davon, was er zum Geldverdienen übersetzte, umso mehr | |
von seiner Leidenschaft für die Gedichte Joachim du Bellays, einem | |
französischen Lyriker des 16. Jahrhunderts. Für dessen Sonette entwickelt | |
der Übersetzer eine Obsession, ist begeistert von den beiläufig wirkenden, | |
zugleich poetisch präzisen Versen, versucht sich an eigenen Übertragungen, | |
an denen er regelmäßig scheitert. | |
Gabriel Josipovici hat sich selbst ausgiebig mit Fragen der Übersetzung | |
beschäftigt. Mit der französischen Sprache wuchs er als Kind auf: Seine | |
russisch-italienischen und rumänisch-levantinischen Eltern zogen von Kairo | |
nach Frankreich, wo Josipovici 1940 in Nizza geboren wurde. | |
Der ehemalige Professor für Literaturwissenschaften an der University of | |
Sussex, der heute als freier Schriftsteller in England lebt, hat unter | |
anderem in seiner Studie „The Book of God“ von 1988 narratologische und | |
poetologische Überlegungen zur Bibel und deren Übersetzungen angestellt. | |
So elegant Josipovicis wissenschaftliches Schreiben ist, so ungezwungen | |
erscheinen seine intellektuellen Reflexionen, die er seine Übersetzer-Figur | |
anstellen lässt. Neben Erinnerungen sind es seine Passionen, über die | |
dieser gern spricht, [1][Claudio Monteverdis Oper „Orfeo“] etwa, die ihn zu | |
einer kühnen These ansetzen lässt. | |
## Niedergang der Christengemeinschaft | |
Mit dieser Oper, die vielen als Geburtsstunde der Gattung gilt, habe | |
Monteverdi den Übergang vom Chor- zum Sologesang verkündet, ebenso wie den | |
Niedergang der Christengemeinschaft und die „Geburt des Individuums“. Eine | |
Wende zur Neuzeit, die, wenn man so möchte, bis heute angehalten hat. | |
Im Kontrast zu den abgehobenen Gedanken des Übersetzers steht seine Frau, | |
„seine zweite Frau“, wie der Text in schöner Pedanterie wiederholt, für | |
Realitätsprinzip und Common Sense, holt ihn mit freundlichem Spott stets | |
auf den Teppich zurück. Dieses immer wieder von Rückblicken unterbrochene | |
Gespräch der Ehepartner gestaltet Josipovici mit fein distanzierter Komik, | |
die Gnadenlosigkeit, die dahinter gelegentlich aufscheint, vornehm | |
zurückgehalten. | |
„Es sieht ganz so aus, als hätte ich mein Leben damit verbracht, Plätze zu | |
finden, wo ich mich hinsetzen und einfach an nichts denken konnte, sagte er | |
dann immer“, lautet einer der zentralen Sätze dieses Romans. Jeder andere | |
darin bereitet genauso viel Vergnügen. | |
28 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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