# taz.de -- Neues Buch von Clemens J. Setz: Es gibt noch Welten zu entdecken | |
> Clemens J. Setz will alles wissen. Sein neues Buch hat den | |
> Informationswert einer Dissertation und den Unterhaltungswert von | |
> Erzählungen. | |
Bild: Große Leidenschaft für abseitige Wissensgebiete: Clemens J. Setz | |
Kaum ein personenbezogenes Label hat in den letzten Jahren einen so | |
beeindruckenden Bedeutungswandel vollzogen wie die Bezeichnung „Nerd“. | |
Diente sie früher vor allem dazu, jene zu beleidigen, die im sozialen | |
Kosmos des US-amerikanischen Bildungssystems mit ihrer Intelligenz statt | |
mit sportlichen Fähigkeiten auffielen, ist sie heute ein angesehener | |
Ehrentitel für Individualisten, die vielleicht etwas verschroben sind, aber | |
mit ihrem Spezialwissen die Welt voranbringen. | |
Der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz wurde schon oft als Nerd | |
bezeichnet, meist in Anspielung auf seine kauzige Erscheinung oder sein | |
Mathematikstudium. Setz ist aber vor allem deshalb ein Nerd im besten | |
Sinne, weil er es vermag, mit großer Leidenschaft abseitige Wissensgebiete | |
zu erkunden, die den meisten Menschen als alberne Zeitverschwendung | |
erscheinen. | |
Und, was noch viel wichtiger ist: Er vermag es auch, all dieses Wissen | |
aufzubereiten, [1][in Kunst zu verwandeln] und all jene mit seiner | |
Begeisterung anzustecken, die keine Freude daran haben, sich stundenlang | |
durchs Internet zu klicken oder antiquarische Bücher über die krudesten | |
Phänomene aufzuspüren. | |
So entstehen Essays über das Phänomen von ASMR-Videos, über | |
Anne-Frank-Crossover-Fanfiction oder den Grottenolm, Gedichte über Bibi | |
Blocksberg und Schrödingers Katze oder Romane über fiktive Krankheiten, | |
Synästhesie und Stalking. Immer wieder aufs Neue beweist Setz ein | |
untrügliches Gespür für Entlegenes wie Abgründiges und macht dabei keinen | |
Unterschied zwischen Hoch- und Populärkultur oder abseitigen subkulturellen | |
Nischen. Der schreibende Nerd ist der Poeta doctus des 21. Jahrhunderts. | |
In seinem neuen Buch „Die Bienen und das Unsichtbare“ wird die Setz’sche | |
Lehrstunde auf ungewohnt direkte Weise erteilt. Kein fiktionaler Rahmen | |
umgibt das kuriose Wissenssammelsurium, keine Erzählerfigur steht zwischen | |
dem Autor und seinem Publikum. Es spricht der Poeta nerd selbst und wie in | |
einer guten Vorlesung ist das, was er sagt, eine Mischung aus Zitaten, | |
Anekdoten und Fallbeispielen, ausgewogen und unterhaltsam aufbereitet. | |
## Tänzeln ist unsere Natur | |
Worum es ihm in seinem neuen Buch geht, illustriert Setz anhand der | |
Kafka-Erzählung „Eine Kreuzung“. Kafkas Protagonist ist durch Erbschaft in | |
den Besitz eines hybriden Haustiers gelangt. Halb Katze, halb Lamm, | |
entwickelt das seltsame Wesen auch menschliche Züge und versucht mit seinem | |
Besitzer zu kommunizieren. | |
„Manchmal springt es auf den Sessel neben mir, stemmt sich mit den | |
Vorderbeinen an meine Schulter und hält seine Schnauze an mein Ohr. Es ist, | |
als sagte es mir etwas, und tatsächlich beugt es sich dann vor und blickt | |
mir ins Gesicht, um den Eindruck zu beobachten, den die Mitteilung auf mich | |
gemacht hat. Und um gefällig zu sein, tue ich, als hätte ich etwas | |
verstanden, und nicke. – Dann springt es hinunter auf den Boden und tänzelt | |
umher.“ | |
„Es ist dieses Tänzeln“, so Clemens Setz, „von dem mein Buch handelt. Es | |
ist unsere eigentliche Natur.“ | |
Setz erzählt von der inneren Hölle, die ein Mensch durchleben muss, wenn | |
ihm dieses Tänzeln versagt bleibt, von Fällen der Sprachvereinsamung, von | |
Menschen, denen aufgrund ihrer Bewegungs- und Sprachunfähigkeit ihr | |
Bewusstsein abgesprochen wird. | |
Er erzählt die filmreife Lebensgeschichte von Charles K. Bliss, der den | |
Traum von einer alle Völker vereinenden Sprache hegte, die jede Möglichkeit | |
der Propaganda und der Zweideutigkeit von vornherein ausschließt – und | |
dessen Blissymbolics später zu einem Instrument werden, das es Menschen mit | |
schwerer Behinderung ermöglicht, sich zu verständigen. | |
Er erzählt von den beiden großen Plansprachen, [2][Volapük und Esperanto,] | |
ihrer enthusiastischen Anfangszeit Ende des 19. und Anfang des 20. | |
Jahrhunderts und dem langsamen Verschwinden in den folgenden Jahrzehnten. | |
## Jede Sprache ist unzulänglich | |
Zwischendurch zitiert der Autor immer wieder Gedichte, die in Sprachen | |
geschrieben sind, die vermutlich nahezu keine*r seiner Leser*innen auch nur | |
im Ansatz beherrscht, stellt unbekannte Poet*innen vor, die ihre Verse für | |
eine verschwindend kleine Leser*innenschaft verfassten, und versucht | |
sich an Übersetzungen und Nachdichtungen. Es ist auch ein Buch über das | |
Übersetzen – und die Unzulänglichkeit einer jeden Sprache, sei es eine | |
natürliche oder eine Kunstsprache. | |
Trotz der enormen Informationsfülle, mit der man in diesem Buch | |
konfrontiert wird, ist es keinesfalls so, dass Setz die Leser*innen nur mit | |
vermeintlich unnützem Wissen bombardieren oder eine lieblose | |
Zusammenfassung aus Tausenden Wikipedia-Artikeln präsentieren würde. | |
Er spricht die Leserin (wohlgemerkt im generischen Femininum) direkt an, | |
bettet den Wust an Informationen in Geschichten ein, die er in bester | |
Setz’scher Manier mit besonderer Vorliebe für Kuriositäten erzählt, er | |
kommentiert seine Recherchen mit Empathie und Selbstironie und gibt dabei | |
auch viel von sich selbst preis. | |
## Enorme Fülle an Informationen | |
Überhaupt ist es eines der persönlichsten Bücher von Setz. Großzügig wird | |
aus seinem Tagebuch zitiert, in das wir bereits im schmalen Band „Bot. | |
Gespräch ohne Autor“ Einblick erhalten durften. So erfahren wir, wie Setz – | |
geplagt von Verfolgungswahn und den Auswirkungen einer Autoimmunerkrankung | |
– einen Sommer lang den Versuch unternommen hat, Volapük zu lernen. Eine | |
Erfahrung, die ihn nachträglich der Frage auf den Grund gehen lässt, warum | |
man gerade in Lebenskrisen Halt in der Struktur einer Plansprache zu finden | |
versucht. | |
Es ist ein eigentümliches Genre, das Setz hier entwirft und das mit dem | |
biederen Ausdruck „erzählendes Sachbuch“ nur unzureichend beschrieben wär… | |
Es gibt wohl noch kein Wort für diesen Cocktail aus nacherzähltem | |
Bücherwissen, journalistischer Recherche und (auto)biografischen Anekdoten, | |
den uns der Autor da verabreicht, und wir können es der sich bereits | |
formierenden literaturwissenschaftlichen Setz-Forschung überlassen, ein | |
geeignetes zu finden. | |
Herausgekommen ist ein Genremix mit dem Informationswert einer Dissertation | |
und dem Unterhaltungswert eines kurzweiligen Erzählungsbands. Wobei das mit | |
der Kurzweile sicher nicht alle Leser*innen für alle Teile des Buchs | |
unterschreiben würden. Es gibt Stellen, da fragt man sich, ob es nicht | |
einen Exkurs oder ein Beispielgedicht weniger auch getan hätte. | |
## Man braucht selbst kein Nerd zu sein | |
Doch man muss sich gar nicht in allen Kapiteln von Setz’ grenzenloser | |
Begeisterung anstecken lassen und man muss auch selbst kein Nerd sein, um | |
dieses Buch zu genießen. Vielmehr kann man getrost einige der vielen | |
Fußnoten oder der seitenlangen Zitate überspringen, wenn einem danach ist, | |
und man wird dennoch etwas von der Lektüre mitnehmen. Und sei es nur die | |
Erkenntnis, dass es da draußen noch Welten zu entdecken gibt, von denen man | |
bisher noch gar nichts geahnt hat. | |
Am Ende von „Die Bienen und das Unsichtbare“ heißt es: „Ich hasse es so, | |
wenn ich Leute über die gegenwärtige Literatur jammern höre. Ich verstehe | |
natürlich, dass nicht jeder gerne in Archiven oder in obskuren | |
Wörterbüchern oder auf bestimmten Webseiten auf Tunnelfahrt gehen kann, | |
aber vieles ist doch ganz nahe, sozusagen um die Ecke. Man muss gar nicht | |
immer dieselben Bücher lesen.“ Ein Glück gibt es Nerds wie Clemens J. Setz, | |
die für uns auf Tunnelfahrt gehen, um von ihren Reisen zu berichten. | |
30 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Christian Dinger | |
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