# taz.de -- Erich Mühsams Tagebücher: Im Zentrum des Geschehens | |
> Chris Hirte und Conrad Piens haben die Edition von Erich Mühsams | |
> Tagebüchern abgeschlossen. Die sind voller Tragik und politischer | |
> Brisanz. | |
Bild: In der Onlineausgabe der Tagebücher eröffnet sich ein ganzer Mühsam-Ko… | |
Wenn jemand sein Tagebuch mit der Bemerkung beginnt, er werde wohl kaum zu | |
so regelmäßigen und ausführlichen Eintragungen kommen „wie damals im | |
Gefängnis“, dann weiß man bereits, dass es sich um kein ganz gewöhnliches | |
Leben handelt, von dem hier Zeugnis abgelegt wird. Der schreibende Jemand | |
ist 32 Jahre alt, gelernter Apothekergehilfe und heißt Erich Mühsam. | |
Gerade befindet er sich in Château-d’Œx, einem Badeort in der französischen | |
Schweiz. Seine Verwandten haben ihn dorthin geschickt, nachdem sie ihn, den | |
ungeliebten Taugenichts und Bohemien, dazu genötigt haben, auf sein | |
großväterliches Erbe zu verzichten. | |
Wie ein Fremdkörper bewegt sich der intellektuelle Anarchist mit Zottelbart | |
und Zwicker im alpinen Postkartenidyll zwischen älteren französischen | |
Damen, mokiert sich über die übrigen Kurgäste, räsoniert über die | |
Lächerlichkeit des Wilhelminismus und versucht seine Essays und Gedichte in | |
der ein oder anderen revolutionären Zeitschrift unterzubringen, um die | |
kümmerlichen Zahlungen seines herrischen Vaters etwas aufzubessern. Fast | |
könnte dies der Auftakt für einen skurrilen Sanatoriumsroman in | |
Tagebuchform sein, wenn nicht noch so viel mehr folgen sollte. | |
Es folgen die Jahre, in denen Mühsam als Mitglied der Schwabinger Boheme | |
seinen Ruf als Schriftsteller ausbaut, in freundschaftlichem Kontakt mit | |
berühmten Zeitgenossen wie Heinrich Mann und Frank Wedekind, aber immer am | |
Rande des Existenzminimums. Es folgt der Erste Weltkrieg, der den | |
überzeugten Pazifisten in eine schwere Krise stürzt. | |
## Ein Mammutprojekt ist abgeschlossen | |
Es folgt schließlich [1][die Revolution von 1918/1919], die den | |
nachdenklichen Kaffeehausliteraten mit einem Mal zum Protagonisten der | |
Münchener Räterepublik macht – jenes kurzlebigen Versuchs einiger | |
pazifistischer Anarchisten um Mühsam, Gustav Landauer und Ernst Toller, | |
einen Weg jenseits von parlamentarischer Demokratie und kommunistischer | |
Parteidiktatur einzuschlagen, der nach wenigen Wochen von Reichswehrtruppen | |
und nationalistischen Freikorps gewaltsam beendet wurde. Und es folgen die | |
fünf Jahre der Festungshaft, in denen ein Großteil der erhaltenen | |
Tagebuchaufzeichnungen entstanden sind. | |
In insgesamt 42 Heften (von denen allerdings sieben verschollen sind) hat | |
Mühsam Persönliches, Politisches und Literarisches festgehalten, rund 7.000 | |
Seiten in der Edition des Verbrecher Verlags. Die beiden Herausgeber Chris | |
Hirte und Conrad Piens haben sich des Mammutprojekts der Veröffentlichung | |
angenommen, die nun abgeschlossen ist. Der erste der insgesamt 15 Bände | |
erschien 2011, der letzte soeben. | |
Einzigartig und bemerkenswert ist aber vor allem die dazugehörige | |
Onlineedition, die vom ersten bis zum letzten Eintrag sämtliche | |
Tagebuchaufzeichnungen Mühsams auf [2][muehsam-tagebuch.de] als Volltext | |
zugänglich macht – ganz ohne Bezahlschranke oder Registrierung. | |
Aber die Onlineausgabe bietet nicht nur den kompletten Text der Tagebücher, | |
sondern auch ein Personenregister, umfassendes Quellen- und Bildmaterial | |
und die Möglichkeit einer Volltextsuche. So lässt sich auf sehr einfache | |
Weise herausfinden, wann Mühsam zum ersten Mal Adolf Hitler erwähnt (am 20. | |
9. 1921) oder in wie vielen Tagebucheinträgen das Wort „pleite“ vorkommt | |
(61). | |
## Die Aura des Originals | |
Darüber hinaus gibt es einen umfassenden Anmerkungsapparat. Mit nur einem | |
Mausklick erfährt man die Lebensdaten der von Mühsam erwähnten Personen, | |
sieht, in welchen Tagebucheinträgen sie vorkommen, und findet | |
gegebenenfalls den entsprechenden Link zum Wikipedia-Beitrag. Auch viele | |
der Gedichte und Zeitschriftenbeiträge Mühsams sind als Volltext verlinkt. | |
Obendrein besteht die Möglichkeit, jederzeit in den Faksimile-Modus | |
umzuschalten und die Tagebücher in der Originalhandschrift zu lesen – für | |
diejenigen, die überprüfen möchten, ob den beiden Herausgebern in ihrer | |
Abschrift auch kein Fehler unterlaufen ist, oder die die technische | |
Mittelbarkeit der Onlineedition durch die Aura des Originals kompensieren | |
möchten. | |
Entstanden ist so nicht nur eine historisch-kritische Ausgabe, sondern ein | |
hypertextueller Teppich aus Haupt- und Nebentexten, erläuternden Angaben | |
und weiterführender Lektüre, in der man sich auf wunderbare Weise verlieren | |
kann. Ein ganzer Mühsam-Kosmos, der in einer gedruckten Ausgabe kaum genug | |
Platz gefunden hätte. | |
Und doch ist es gut und wichtig, dass es die 15-bändige Leseausgabe in der | |
klassischen Form gibt, nicht zuletzt, weil es eine Wertschätzung der | |
literarischen Qualität von Mühsams Tagebüchern ist. Und dem geneigten | |
Bildungsbürger, der sich früher vor dem Kamin sitzend in die Tagebücher von | |
Samuel Pepys vertiefte, um zu erfahren, wie das englische Bürgertum im 17. | |
Jahrhundert gelebt hat, dem möchte man ans Herz legen, in den | |
Mühsam-Tagebüchern nachzulesen, wie die Welt war in den Jahren vor und nach | |
der gescheiterten deutschen Revolution, die nun 100 Jahre zurückliegt. | |
## Der überzeugte Pazifist und Antimilitarist | |
Denn auch im reinen Tagebuch-Text erschließt sich der Mühsam-Kosmos, der | |
voller Tragik, politischer Brisanz, so voller Emotionen ist – dass man sich | |
fragt, warum nicht alle Welt vor diesen Texten gebeugt sitzt wie vor | |
neapolitanischen Sagas und Selbstbespiegelungen norwegischer Autoren. | |
Der Grund dafür, dass es in den Tagebüchern so viel zu entdecken gibt, | |
liegt auch daran, dass es sich dabei nicht um die belehrenden Ausführungen | |
eines überzeugten Aktivisten handelt. Mühsams Blick auf sich und die Welt | |
ist oft widersprüchlich – und nicht selten selbstkritisch. | |
In den ersten Kriegstagen 1914 bleibt selbst er, der überzeugte Pazifist | |
und Antimilitarist, nicht unberührt von der allgemeinen Kriegsbegeisterung. | |
Zwar mischen sich in seine patriotischen Anwandlungen gleich wieder | |
nachdenkliche Töne, doch bei allem Abscheu gegenüber Krieg und Morden | |
artikuliert er immer wieder die Hoffnung, die Deutschen mögen doch so | |
schnell wie möglich siegen. | |
Und als Mühsam wenige Jahre zuvor wie ein verliebter Teenager von der | |
Nationalökonomie-Studentin Jenny Brünn schwärmt, ist er bereit, seinen Hass | |
auf bürgerliche Institutionen beiseitezulassen und sie zu heiraten. | |
Allerdings nicht auf Wunsch von Jenny, die, ebenfalls Anarchistin, dem Plan | |
eher skeptisch gegenübersteht; sondern um sich mit der erwarteten Mitgift | |
endlich ein Minimum an finanzieller Sicherheit zu erkaufen. Als die Heirat | |
nicht zustande kommt und Jenny ohne Mitgift bei ihm leben möchte, zieht | |
Mühsam es vor, sein Junggesellendasein ohne Jenny weiterzuführen. | |
## Widersprüchlichkeiten und Schwächen | |
Mühsam versucht nicht, seine Widersprüchlichkeiten und Schwächen vor dem | |
Tagebuch geheim zu halten. Ohne Scham berichtet er von | |
Geschlechtskrankheiten und seiner Angst vor Impotenz genauso wie von seinen | |
Selbstzweifeln und den Veränderungen in seinem politischen | |
Koordinatensystem. | |
Gerade angesichts dieser in weiten Teilen lückenlosen Dokumentation | |
politischer wie persönlicher Ereignisse ist es ein großer Verlust, dass | |
ausgerechnet die Tagebücher aus den letzten Kriegsmonaten und der | |
Revolutionszeit verschollen sind – also gerade aus jener Zeit, in der | |
Mühsam im Zentrum des politischen Geschehens agierte. | |
Es ist anzunehmen, dass die betreffenden Hefte in der Sowjetunion, wohin | |
Mühsams Frau Zenzl nach der Ermordung ihres Mannes mit dessen Tagebüchern | |
fliehen musste, vernichtet wurden, weil der Inhalt der politisch brisanten | |
Texte zu weit jenseits der staatssozialistischen Parteidoktrin lag. | |
Auch wünscht man sich, Mühsam hätte sein Tagebuch nicht schon am Tag seiner | |
Freilassung aus der Festungshaft am 20. Dezember 1924 beendet. Zu gern | |
würde man jetzt, da man schon so tief eingetaucht ist in den Mühsam-Kosmos, | |
auch von seinen Berliner Jahren lesen: von der immer fragiler werdenden | |
Republik, von der Herausgabe der Zeitschrift Fanal und Mühsams kurzzeitiger | |
Wohngemeinschaft mit dem jungen Herbert Wehner, bevor sich dieser dem | |
Parteikommunismus zuwandte. Auch der rasante Aufstieg von Hitler und seiner | |
Partei, dessen gefährliches Potenzial Mühsam schon früh erkannte, blieb | |
undokumentiert. | |
## Warten auf Würdigung | |
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten überlebte Mühsam nicht lange. | |
Als Jude und Anarchist war er den Nazis gleich doppelt verhasst. Bereits | |
kurz nach dem Reichstagsbrand wurde er verhaftet und nach Monaten der | |
Folter und Demütigung von der SS-Wachmannschaft des KZ Oranienburg | |
ermordet. | |
Viel zu lange musste das Schicksal und das Werk Mühsams auf eine | |
angemessene Würdigung warten. In der DDR wurde der Dichter vereinnahmt und | |
seine anarchistische Gesinnung unter den Teppich gekehrt. In der BRD wurde | |
er auf seine Funktion als Ikone der Anarchisten reduziert. | |
Dass der Autor Erich Mühsam dabei oft vernachlässigt wurde, mag auch damit | |
zu tun haben, dass sein Werk, wie das vieler anderer politischer Dichter | |
seiner Zeit, größtenteils aus vereinzelten Schriften und Gedichten besteht, | |
die zu Lebzeiten in Zeitschriften erschienen sind. Ihm fehlte das | |
Hauptwerk, das die Zeiten überdauert. Doch das hat sich nun geändert: | |
Mühsams Hauptwerk, das sind seine Tagebücher. | |
16 Jul 2019 | |
## LINKS | |
[1] /November-Revolution-1918/!5545002 | |
[2] http://www.muehsam-tagebuecher.de | |
## AUTOREN | |
Christian Dinger | |
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