# taz.de -- Anne Franks 90. Geburtstag: Sehne mich so nach Weinen | |
> Am 12. Juni wäre Anne Frank 90 Jahre alt geworden. Eine aktuelle Ausgabe | |
> ihres Tagebuchs lädt zum Gedenken und zur Neuentdeckung ein. | |
Bild: Sie war nicht nur ein von den Nazis verfolgtes Mädchen, sondern auch ein… | |
Anne Frank könnte noch leben. Vielleicht verbrächte sie ihren 90. | |
Geburtstag in einem Altersheim in Frankfurt am Main, ihrer Geburtsstadt, | |
gefeiert von Kindern, Enkeln und Urenkeln. Vielleicht beginge sie den 12. | |
Juni auch in Amsterdam, hoch geehrt ob ihrer literarischen Verdienste. | |
Gewiss würde ihr Verleger vorbeischauen und zum runden Jubiläum Blumen | |
überbringen. | |
Doch Anne Frank ist seit 74 Jahren tot, gestorben in der Hölle des KZ | |
Bergen-Belsen. Am 12. Juni wird es ihr zu Ehren in Frankfurt eine | |
Gedenkveranstaltung in der Paulskirche geben. Das Motto des Tages wird | |
lauten: „Lasst mich ich selbst sein“, ein Zitat aus ihrem Tagebuch, | |
geschrieben im Versteck in einem Amsterdamer Hinterhaus, als sie 14 Jahre | |
alt war. | |
Anne Frank hat Weltliteratur geschrieben, wohl kaum ein Werk berichtet | |
eindringlicher und unmittelbarer über die Verfolgung der Juden im | |
Nationalsozialismus als ihr Tagebuch, in dem sie den Alltag im Versteck | |
beschreibt, ihre Ängste und Hoffnungen, die Reibereien zwischen den mit ihr | |
untergetauchten Erwachsenen, die Enge, die Witze, mit denen die | |
Eingeschlossenen sich Mut machen, die Furcht vor dem Entdecktwerden und | |
ihre intimen Beobachtungen darüber, wie sie sich selbst vom Kind zur Frau | |
entwickelt. | |
So ist Anne Frank zu einem [1][Symbol für die Opfer des Holocaust] | |
geworden. Doch das ist ein Missverständnis. Schon Miep Gies, eine ihrer | |
Helferinnen, hat darauf hingewiesen: „Annes Leben und Tod ist ein | |
individuelles Schicksal. Ein individuelles Schicksal – sechs Millionen Mal | |
passiert. Jedes Opfer vertrat seine eigenen Weltanschauungen und Ideale, | |
jedes Opfer hatte eine einzigartige, persönliche Bedeutung.“ | |
## Die meisten wurden entdeckt und ermordet | |
Falsch wäre es auch, aus ihrer mehr als zwei Jahre währenden Leidenszeit im | |
Versteck Rückschlüsse auf die Überlebensmöglichkeiten der Juden zu ziehen. | |
Ja, wohl Zehntausende haben in Europa diesen Weg gewählt, doch es hätten, | |
mehr Zivilcourage unter den Christen vorausgesetzt, viel mehr sein können. | |
Die meisten Jüdinnen und Juden sind von der Gestapo und ihren Helfern | |
entdeckt und ermordet worden. In Deutschland haben vielleicht 2.000 [2][die | |
NS-Zeit so überstanden]. | |
Doch die allerwenigsten von ihnen konnten sich, so wie Anne Frank, | |
dauerhaft und unterstützt von vertrauten Menschen an einem Ort verbergen. | |
Sie mussten die Quartiere überstürzt wechseln, gänzlich Unbekannten | |
vertrauen und auf Dachböden, in Kellern oder im Freien nächtigen, | |
erpressbar von manchen vermeintlichen Helfern, die ihre Notlage ausnutzten, | |
und ohne Kontakt zu Freunden und Familienangehörigen. | |
Die Furcht vereinte alle Versteckten. „Ich frage mich immer wieder, ob es | |
nicht besser für uns gewesen wäre, wenn wir nicht untergetaucht wären, wenn | |
wir nun tot wären und dieses Elend nicht mitmachten und vor allem den | |
anderen ersparten“, schrieb Anne Frank am 26. Mai 1944. Mit Datum vom 12. | |
Februar 1944 notierte sie: „Die Sonne scheint, der Himmel ist tief-blau … | |
und ich sehne mich so – sehne mich so – nach allem – nach Freiheit, nach | |
Freunden, nach Allein-sein. Ich sehne mich so … nach Weinen!“ | |
Das Tagebuch liegt in vier Fassungen vor. Version c ist der von ihrem Vater | |
bald nach dem Krieg veröffentlichte Text, in dem Otto Frank die Notizen von | |
manchen Stellen bereinigte, die das Andenken an die Familie schmälerten. | |
Version d bezeichnet die weltweit verbreitete Leseausgabe, in der die | |
Fassungen a und b zusammengeführt sind. Weniger bekannt ist, dass Anne | |
Frank ihr Tagebuch ab März 1944 in eine zweite, literarische Version | |
umschrieb, nachdem sie im Radio einen Aufruf zum Bewahren persönlicher | |
Erinnerungen an die Leidenszeit der Niederländer während der Besatzung | |
gehört hatte. | |
Allzu Intimes entfiel dabei, Personennamen kürzte sie ab. Dieser Text, | |
Version b genannt, ist reflektierender, bewahrt aber dennoch die | |
Unmittelbarkeit des ursprünglichen Tagebuchs, das sie weiterführte und das | |
heute als Version a gilt. Es trägt den Titel „Das Hinterhaus“. | |
Zum 90. Geburtstag von Anne Frank hat der Fischer-Verlag diese beiden Texte | |
a und b nun in einer gemeinsamen Ausgabe vereint (Anne Frank: „Das | |
Hinterhaus – Het Achterhuis: Die Tagebücher von Anne Frank“. 477 Seiten, | |
35 Euro). Auch wenn beide Versionen bekannt sind, ist dadurch ein Buch | |
entstanden, das zu einer Neuentdeckung einlädt und deutlich macht, dass | |
Anne nicht nur ein von den Nazis bis in den Tod verfolgtes jüdisches | |
Mädchen war, sondern eine begnadete Schriftstellerin. | |
12 Jun 2019 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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