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# taz.de -- Angeblicher Verrat an Anne Frank: Wer verriet Anne Frank?
> Schon lange gibt die Frage Rätsel auf, wie die Familie Frank von den
> Nazis entdeckt wurde. Ein Rechercheteam glaubt, die Wahrheit entdeckt zu
> haben.
Bild: Im Anne-Frank-Haus in Amsterdam
War es Tonny Ahlers? Der niederländische Nazianhänger soll Geld von der
Familie erpresst haben. Er, so die Vermutung, habe den Sicherheitsdienst
der SS auf die Fährte gesetzt. Oder trifft Willem van Maaren die Schuld?
Der Lagerarbeiter war im selben Haus wie die Versteckten tätig und galt als
unsympathisch. 1947 wird er als mutmaßlicher Verräter angezeigt. Doch die
Ermittlungen verlaufen im Sande.
Ein Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht 263 am 4. August 1944 gegen
10 Uhr am Morgen: Polizisten entdecken das Versteck von [1][Anne Frank] und
ihrer Familie. Sie sowie weitere Juden und zwei Helfer werden abgeführt.
Anne wird über das niederländische Durchgangslager Westerbork nach
Auschwitz deportiert. Von dort kommt sie in das KZ Bergen-Belsen.
Wahrscheinlich im Februar 1945, nur wenige Wochen vor der Befreiung, stirbt
die wohl berühmteste Tagebuchschreiberin der Welt im Alter von 15 Jahren.
Von der Familie überlebt nur der Vater Otto.
Seit 75 Jahren wird darüber gerätselt, wer Anne Frank und ihre Familie
verraten hat. Dutzende Namen sind im Umlauf. Es gab zwei polizeiliche
Ermittlungen. Beweise fehlen.
Jetzt hat ein internationales Rechercheteam nach jahrelanger Arbeit neue
Ergebnisse vorgelegt – und dazu gleich auch noch ein Buch veröffentlicht.
Die 23 privaten Ermittler, darunter der pensionierte FBI-Agent [2][Vince
Pankoke], sind sich zu „mindestens 85 Prozent“ sicher, den wahren Täter
aufgespürt zu haben: den Notar Arnold van den Bergh. Er, und das macht die
Angelegenheit so schwierig, war selbst Jude.
## Der Verdacht bestand seit den 1960er Jahren
Schon kurz nach Kriegsende hatte der nach Amsterdam zurückgekehrte Vater
von Anne Frank ein anonymes Schreiben erhalten, nach dem van den Bergh das
Versteck verraten habe. Die daraufhin von Otto Frank kopierte Notiz gilt
als verschollen, ebenso das Original. Auch äußerte sich Frank offenbar
nicht näher dazu. Jetzt aber fanden die Rechercheure eine weitere Kopie
dieses Briefs im Amsterdamer Stadtarchiv. Es ist mit Otto Franks
Schreibmaschine verfasst, ergaben nähere Untersuchungen. Wer allerdings der
Autor des anonymen Schreibens war, ist weiterhin unklar – die Beweiskette
hat damit Lücken.
Die Ermittler geben an, etwa 30 Spuren gefolgt zu sein. „Wir können mit
Sicherheit sagen, dass 27 bis 28 von ihnen unwahrscheinlich oder unmöglich
passen“, sagt der Journalist Pieter van Twisk, der zu dem Team gehörte.
Den Recherchen zufolge war der Verrat nicht gegen Familie Frank persönlich
gerichtet. Vielmehr soll van den Bergh den SS-Schergen eine ganze Liste mit
Orten versteckter Juden in Amsterdam übergeben haben, und auf dieser Liste
standen zwar keine Namen, aber das Hinterhaus in der Amsterdamer
Prinsengracht 263.
Der Name van den Bergh taucht nicht zum ersten Mal auf. Schon in den 1960er
Jahren galt der Notar als verdächtig. Doch damals hieß es, er sei schon
1943 von den Nazis deportiert worden und käme deshalb als Täter nicht
infrage.
Diese These entspricht offenbar nicht der Wahrheit. Tatsächlich ist es van
den Bergh 1944 anscheinend gelungen, die SS davon zu überzeugen, ihn und
seine Familie von den Listen der Deportation zu streichen. Ob der Verrat
dabei eine Rolle gespielt hat, bleibt unklar. Jedenfalls überlebte van den
Bergh und starb im Jahr 1950.
## 7,50 Gulden, umgerechnet etwa 37,50 Euro Kopfgeld
Warum aber sollte ausgerechnet ein ebenfalls von den Nazis verfolgter
Niederländer und Jude die Franks und weitere Versteckte verraten haben?
Diese Frage führt tief in das von den Nazis aufgebaute System von Spitzeln
und Verrätern.
Zwar gelten die Niederländer bis heute als ein besonders widerständiges
Volk gegenüber der Naziokkupation. Tatsächlich kam es im Februar 1941 in
Amsterdam sogar zu einem Streik von Hafenarbeitern sowie Mitarbeitern der
Verkehrsbetriebe und der Müllabfuhr gegen die Drangsalierung der Juden.
Doch Historiker*innen wie Tanja von Fransecky gehen davon aus, dass
sich der Protest gegen die Judenverfolgung insgesamt in Grenzen hielt.
Zugleich blühte die Kollaboration mit den Besatzern, die den Holländern
eine „arische“ Abstammung zuschrieben. Mindestens 25.000 Niederländer
dienten in der Waffen-SS. Das war gemessen an der Bevölkerungszahl das
stärkste Kontingent von Ausländern in dieser Mördertruppe.
7,50 Gulden, umgerechnet etwa 37,50 Euro, betrug zunächst das Kopfgeld, das
Menschen ausgezahlt wurde, die einen Juden in Amsterdam im Versteck
verrieten. An der Fahndung nach den Untergetauchten beteiligten sich
Polizeibeamte, Angestellte der Zentralstelle für jüdische Auswanderung –
einer Tarnorganisation zur Deportation – und ganz normale Holländer.
Mit der Kolonne Henneicke existierte zudem eine ganze Abteilung aus 54
„Judenjägern“. Sie lieferten alleine 2.915 Jüdinnen und Juden in der
Amsterdamer Sammelstelle Hollandsche Schouwburg ein.
## Das Ergebnis der zynischen Herrschaftspolitik der Nazis
Dass sich auch Juden daran beteiligten, Menschen in den Tod zu schicken,
war das Ergebnis der perfiden Herrschaftsstrategie der NS-Besatzer. Diese
installierten im Februar 1941 einen „Judenrat“. Äußerlich schien diese
Institution der Selbstverwaltung der verfolgten Minderheit zu dienen.
Tatsächlich war der Amsterdamer Judenrat, ähnlich wie die Judenräte in den
besetzten Ländern Osteuropas, ein Instrument, um Unterdrückung,
Diskriminierung und den Massenmord möglichst effektiv durchführen zu können
– nämlich unter Beteiligung der Opfer. Denn ihren Mitgliedern oblag es, die
antijüdischen Maßnahmen auch durchzusetzen. Sie waren Befehlsempfänger der
Gestapo und wurden dazu gezwungen, Listen der zu Deportierenden vorzulegen.
Zugleich allerdings bemühten sich viele Mitglieder der Judenräte darum, die
Not der Verfolgten zu lindern. Das Verdikt aus den 1960er Jahren, die
Mitglieder der Judenräte seien samt und sonders üble Kollaborateure
gewesen, gilt deshalb unter Historikern als überholt.
Auf der anderen Seite standen die Privilegien ihrer Mitglieder: In
Amsterdam waren sie lange von einer Deportation ausgeschlossen. Das war ein
Grund, warum Tausende Juden als Angestellte beschäftigt wurden. Erst als
sich das 1943 änderte, weil die Nazis die Judenräte angesichts der
fortschreitenden Deportation der Minderheit nun für überflüssig hielten,
gerieten auch sie in Lebensgefahr.
Anders als in Berlin, wo jüdische „Greifer“ dazu erpresst wurden, versteckt
lebende Juden zu verraten und der Gestapo auszuliefern, gab es ein solches
System in Amsterdam nicht. Wohl aber existierten auch dort einzelne Juden,
die im Untergrund lebende Menschen ans Messer lieferten, so wie Ans van
Dijk, die nach dem Krieg hingerichtet wurde. Sie hatte mehr als einhundert
Juden verraten, schreibt der Historiker Sytze van der Zee.
Der hoch geachtete Notar Arnold van den Bergh hatte vor Kriegsbeginn
verfolgte Juden aus Deutschland in ihrem Exil in den Niederlanden
unterstützt. Später wurde er Mitglied des Amsterdamer Judenrats und war
damit im Jahr 1944 unmittelbar von der Deportation bedroht. Er hätte wohl
die Möglichkeit gehabt, eine Liste untergetauchter Juden in die Hand zu
bekommen und weiterzugeben. Er und seine Familie befanden sich in
Todesgefahr. Sollte er tatsächlich die Familie von Anne Frank verraten
haben, dann war dies das Ergebnis der zynischen Herrschafts- und
Vernichtungspolitik der Nazibesatzer.
18 Jan 2022
## LINKS
[1] /Anne-Franks-90-Geburtstag/!5601350
[2] https://meaww.com/who-is-vince-pankoke-led-anne-frank-cold-case-team-to-dis…
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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