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# taz.de -- Ernst Tollers „Jugend in Deutschland“: Krieg und Revolution
> Ernst Tollers politisches Vermächtnis „Eine Jugend in Deutschland“
> erschien 1933 im Exilverlag Querido. Nur wird es reanimiert.
Bild: Ein seltener Moment der Ruhe in Ernst Tollers (r.) von Kriegen und Exil b…
Aus heiterem Himmel werden Potentaten in der Regel nicht gestürzt. Selbst
Misswirtschaft und Korruption sind ungeeignet, ihre Macht zu brechen. Erst
wenn sie aus imperialem Größenwahn Kriege anzetteln und dabei militärisch
den Kürzeren ziehen, sind ihre Tage gezählt, wie die Nachgeschichte des
Ersten Weltkriegs zeigt. Ernst Toller hat die deutsche Variante dieser
Lektion hautnah durchlebt und durchlitten.
Sein literarisches Vermächtnis, „Eine Jugend in Deutschland“, macht den
Zusammenhang von Krieg und Revolution deutlich. Das durchgehend im Präsens
verfasste und damit gegenwärtig gebliebene Erinnerungswerk weist auch
ruchlose Eroberer von heute in ihre Schranken: Wer nicht genug bekommt, hat
schon verloren.
Toller ist mittendrin, als der Kaiser die Deutschen im August 1914 zu den
Waffen ruft, als „glühende Patrioten“ ihrem obersten Befehlshaber die Treue
schwören und todessüchtige Abiturienten ihre Hüte schwenken. Dass ein
Grenzgänger wie er in den vaterländischen Reihen mitmarschiert, ist auf den
ersten Blick schwer verständlich. „Jude hepp, hepp!“, wird dem 1893 in
Samotschin in der preußischen Provinz Posen geborenen Sohn eines Gastwirts
und Getreidehändlers schon in der Kindheit nachgerufen.
## Mensch minderen Ranges
Doch gerade diese Einstufung als Mensch minderen Ranges motiviert ihn, sich
an der Front als guter Deutscher zu beweisen. Kuriert wird er von diesem
Irrweg erst, als er die verschwörungsideologischen Lügen des Kaisers, die
dem Vaterland eine „Welt von Feinden“ vorgaukeln, vor Ort durchschaut.
Mit Kriegsgreueln warten in der Weimarer Republik auch Romane wie Ernst
Glaesers „Jahrgang 1902“, Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“
und Arnold Zweigs „Streit um den Sergeanten Grischa“ auf. Doch Tollers
expressionistisch illuminiertes Gegenstück ist kein Bildungsroman, sondern
ein Tatsachenbericht. Der Fronteinsatz in der Hölle von Verdun und im
verkohlten „Priesterwald“ von Lothringen ist ihm nur ein paar scharf
belichtete, aber umso eindringlichere Seiten wert.
Statt wie Ernst Glaeser das „Manifest einer verlorenen Generation“ zu
schreiben, nimmt er die verknäuelten, wie in grausiger Umarmung erstarrten
Leichenberge ins Visier, die der Krieg anstelle des versprochenen
Lebensraums hinterlässt: „Und plötzlich, als teile sich die Finsternis vom
Licht, das Wort vom Sinn, erfasse ich die einfache Wahrheit Mensch, die ich
vergessen hatte, die vergraben und verschüttet lag, die Gemeinsamkeit, das
Einende.“
Mit den heimkehrenden Frontsoldaten kehrt der Krieg an seinen Ursprung
zurück: Der Kaiser dankt ab, die Kriegstreiber verkrümeln sich auf ihre
Güter, die Waffenhändler sacken den Gewinn ein, und die Massen darben. Da
tut sich mit Unterstützung kriegsmüder Soldaten und klassenbewusster
Arbeiter ausgerechnet in München ein utopisches Zeitfenster auf. Ein
rauschebärtiger Revoluzzer namens Kurt Eisner, „arm, bedürfnislos, lauter
und von fraulicher Zartheit“, steigt vom unbekannten Zeitungsschreiber zum
Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern auf.
Wie sein Gefolgsmann Ernst Toller ist er kein ferngesteuerter Bolschewist,
sondern ein Unabhängiger Sozialdemokrat mit anarchischen Neigungen. Nach
nur hundert Tagen Räteherrschaft wird er auf offener Straße durch zwei
Kugeln in den Hinterkopf getötet.
## Bolschewist und Jude
Sein Mörder, österreichischer Spross des jüdischen Bankhauses Salomon
Oppenheim, weiß warum. Seine Begründungen sind zwar weitgehend aus der Luft
gegriffen, aber sie erweisen sich als politisch anschlussfähig: „Eisner ist
Bolschewist, er ist Jude, er ist kein Deutscher, er untergräbt jedes
vaterländische Denken und Fühlen, er ist Landesverräter.“
Die Gunst der Stunde, die für einen Wimpernschlag der Geschichte zwar nicht
alles anders, aber einiges besser macht, ist verrauscht. Der bunte Haufen
aus Sozialisten und Anarchisten, Wirrköpfen und Bohemiens wird für sein
Wagnis namens Münchner Räterepublik grausam bestraft. Die von dem
Mehrheitssozialdemokraten Gustav Noske („Einer muss der Bluthund werden!“)
in Marsch gesetzte Konterrevolution schlägt zurück.
Was damit auf München zukommt, ist „ein weißer Schrecken, wie ihn noch
keine deutsche Stadt, auch Berlin nicht, erlebt hatte“ (Sebastian Haffner).
## Fulminantes Buch
Wie sieht die entfesselte Soldateska aus, die diese Massaker anrichtet? Die
Andere Bibliothek, die Tollers bayerisches Addendum zu Alfred Döblins
monumentalem Geschichtswerk „November 1918“ wieder verfügbar macht, hat das
fulminante Buch nicht nur mit Dokumenten, ergänzenden Informationen zum
Lebenslauf des Verfassers und einem erhellenden Nachwort des Herausgebers
Ernst Piper angereichert, sondern auch mit historischen Fotos. Auf einem
davon sieht man den Eisendreher Johann Lehner mit erhobenen Händen inmitten
seiner späteren Mörder.
Üben sie an dem angeblichen „Volksfeind“ Verhaltensweisen ein, die 1933 zur
Staatsräson werden? Warum toben sie sich ausgerechnet an einem scheuen
Geistesmenschen wie Gustav Landauer aus, dem Walt-Whitman-Übersetzer und
Autor des gelehrten „Aufrufs zum Sozialismus“?
Warum wird gerade er auf bestialische Weise erst mit Kolbenschlägen, dann
mit Pistolenkugeln und schließlich mit Soldatenstiefeln umgebracht? Welcher
Geist soll hier vom Ungeist ausgetrieben werden? Mehr als 600 Menschen,
darunter 335 Zivilisten, sind brutalisierten Freischärlern und
Landsknechten damals zum Opfer gefallen.
## Fünf Jahre Festungshaft für Toller
Ernst Toller ist zum Glück nicht darunter. Als er von seinen Häschern
hinter einer Tapetentür in der Schwabinger Werneckstraße aufgespürt wird,
ist ihre größte Wut verraucht. Zwar wird er nach Fürsprache von Max Weber
zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, aber hinter Kerkermauern entfaltet
er eine immense literarische Produktivität, die ihn zum meistgespielten
expressionistischen Dramatiker der zwanziger Jahre macht.
Auch nach seiner Entlassung kämpft Ernst Toller für Demokratie und
Weltfrieden unermüdlich weiter, bis er sich 1943 vereinsamt und ausgebrannt
in einem New Yorker Hotelzimmer das Leben nimmt. War sein Aufbegehren von
Beginn an zum Scheitern verurteilt, oder war es den Versuch wert?
Heinrich Mann hält es für gerechtfertigt: „Die hundert Tage der Regierung
Eisners haben mehr Ideen, mehr Freuden der Vernunft, mehr Belebung der
Geister gebracht als die fünfzig Jahre vorher.“
28 Jan 2024
## AUTOREN
Kurt Darsow
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