# taz.de -- Theaterstück über Ernst Toller: Ein zerbrechlicher Held | |
> Jan-Christoph Gockel inszeniert Ernst Tollers „Eine Jugend in | |
> Deutschland“. Er spielt dabei mit zu vielen Einfällen in den | |
> Kammerspielen München. | |
Bild: Szene aus „Eine Jugend in Deutschland“ an den Kammerspielen München | |
Ein vielversprechender Beginn: Der achtzigjährige Walter Hess überblickt | |
sein Leben. Lange – sagt er schlicht – dauere es nicht mehr. Das sei dann | |
so, wie wenn man ein Stück zum zweiten Mal lese: „Man sieht den Anfang | |
anders, wenn man das Ende kennt.“ Ob der Satz nun von ihm stammt oder von | |
Ernst Toller, um den es an diesem Abend an den Münchner Kammerspielen geht: | |
Tenor und innere Haltung passen gut zur melancholischen Lakonie, die | |
Tollers autobiografischen Roman „Eine Jugend in Deutschland“ prägt. | |
1933 erschienen, schildert er das Aufwachsen unter der preußischen Knute, | |
das Trauma des Ersten Weltkrieges und das Scheitern der Räterepublik. | |
Gewidmet hat der Revolutionsführer von 1919 sein Buch „der Welt von | |
morgen“. | |
Die hat auch Regisseur Jan-Christoph Gockel im Blick. Doch erst taucht auf | |
Julia Kurzwegs Drehbühne die Welt von gestern auf. „Gestern“ ist bei Gockel | |
und seinem Puppenspieler-Partner Michael Pietsch ein Schulzimmer voller | |
Puppen, gekleidet in bunte Kostüme, aber mit den Gesichtern der | |
Schauspieler, die ihnen die Stimmen leihen, während Walter Hess mit ihnen | |
hantiert. | |
Sehr intensiv hat sich Hess offensichtlich nicht mit dem Puppenspiel | |
beschäftigt. Es hätte sich auch nicht gelohnt. Denn unter dem Vorwand, sich | |
mit der facettenreichen Persönlichkeit eines Schriftstellers, geläuterten | |
Hurra-Patrioten und politischen Utopisten zu beschäftigen, werden | |
Bühnenmittel hier kurz angefasst und schnell wieder fallen gelassen. | |
## Tendenz Verzettelung | |
Ebenso geht es den biografischen und zeithistorischen Erzähllinien, unter | |
die Gockel noch Auszüge aus Tollers Stücken und Briefen mischt. Als | |
einziger ruhender Pol in den sechs „Folgen“, aus denen der Abend besteht, | |
taucht immer wieder die von Pietsch geführte Toller-Puppe mit ihren | |
traurigen Schlafaugen auf. Mal leibhaftig, mal übergroß im Live-Film. | |
Gockel hat als Hausregisseur in Mainz oder in seiner | |
zivilisationskritischen „Orestie“-Befragung am Schauspiel Frankfurt | |
gezeigt, dass er atmosphärisch dichte Collagen basteln kann, aber auch dazu | |
neigt, sich zu verzetteln. So auch hier. Die Kinderpuppen, die eine Szene | |
später ihre Prinzessinnen- und Ritterkostüme gegen schwarze Uniformen | |
tauschen und bald zerfetzt auf der Bühne liegen, tauchen erst am Ende | |
wieder auf. | |
In den gut drei Stunden dazwischen stürmen expressionistische | |
Menschenpuppen die Bühne: zum Beispiel Gro Swantje Kohlhof als verzwergter | |
Napoleon in Tollers Drama „Nie wieder Friede“. Oder Julia Gräfner, die als | |
grimassierender „Hinkemann“ ihrem Puppen-Lookalike den Kopf abreißt. Man | |
fragt sich, wo die Zartheit des Beginns geblieben ist und was passiert hier | |
gerade. Okay, hier werden expressionistische Dramen zitiert. Aber ganz | |
generell gefragt: Wozu Layer um Layer Ironie auftragen, wenn es doch um | |
etwas geht? | |
## Die Räterepublik feiert die Stadt | |
[1][Der kaum bekannten Schlüsselfiguren einer vergessenen Revolution wolle | |
man gedenken], heißt es im Programmheft. Allerdings verwechseln die | |
Neu-Münchner um die neue Kammerspiele-Intendantin Barbara Mundel da die | |
Stadt, die durchaus fleißig den Jahrestag der Räterepublik gefeiert hat, | |
mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, der in seiner Rede | |
zum 100. Geburtstag des Freistaats Kurt Eisners Namen „vergaß“. | |
Gockel inszeniert den „Sozi aus Berlin“ als Rattenfänger und lässt die | |
50.000, die im November 1918 für demokratische Rechte kämpften, von | |
Gestalten mit opulenten Gewändern und riesigen Tierköpfen vertreten, weil … | |
ja, vermutlich weil es was hermacht. Man bedankt sich artig beim „lieben | |
Kurt“ für Pressefreiheit und Frauenwahlrecht, und ein Heiligenschein liegt | |
über der Szene, da wechselt abrupt der Ton: „Verrecke, du Saujud!“ Schüsse | |
fallen, Eisner fällt – danach sieht man einen Film, in dem wurstförmige | |
Menschen in einem Hotelzimmer demonstrieren, „was Nazis so reden, wenn sie | |
allein sind“. | |
Diese stummfilmästhetische Skizze der völkischen Thule-Gesellschaft ist | |
entschieden zu putzig und in der Ausstellung ihrer Mittel zu eitel, um | |
nahtlos zu den „geschredderten Akten“ und den vermeintlichen „Einzeltäte… | |
des NSU überzuleiten. Am Ende wird diesem zunehmend hohldrehenden Abend | |
sein zerbrechlicher Held zum Fremdkörper. Am 22. Mai 1939 sprang Ernst | |
Toller in New York vom „Karussell des Lebens“ ab. | |
22 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Sabine Leucht | |
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