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# taz.de -- Notizbücher Erich Mühsams von 1926–1933: Mühsams entzifferte N…
> Die Notizbücher Erich Mühsams von 1926–1933 liegen jetzt vor. Sie zeigen
> die politische Arbeit des Dichters und Anarchisten nach der
> Haftentlassung.
Bild: Erich Mühsam
Erwarten Sie jetzt bitte keine Schüttelreime. Auch Hoffnungen auf
unpublizierte Gedichte müssen enttäuscht werden. Und doch ist diese
Veröffentlichung über den Dichter, Schriftsteller und Anarchisten Erich
Mühsam etwas ganz Besonderes. Sie schließt eine Lücke bei der Erforschung
seines Lebens. Und sie ermöglicht einen Einblick in seinen Alltag.
Nach der Veröffentlichung von [1][Mühsams erhalten gebliebenen Tagebüchern
in den vergangenen Jahren durch den Verbrecher Verlag] schien es so, als
könnte das Werk des lange Vergessenen nun vollständig vorliegen, jedenfalls
soweit es nicht von seinen vermeintlichen Freunden in Moskau in
Giftschränke gesperrt wurde oder auf dem Müll landete. Dass dem nicht so
ist, zeigt nun eine kleine Initiative mit großem Herzen und erstaunlichem
Beharrungsvermögen.
Zwei Mitarbeiter der [2][Berliner Gustav Landauer Initiative] haben in
jahrelanger Detailarbeit die Notizbücher Erich Mühsams aus den Jahren 1926
bis 1933 transkribiert. Auch diese Papiere liegen im Original in einem
Moskauer Archiv, wohin Mühsams Ehefrau Zenzl sie nach der Ermordung des
Dichters durch die Nazis 1933 gebracht hatte. Die Akademie der Künste
besitzt jedoch eine Kopie. Weil aus dieser Zeit keine Tagebücher Mühsams
vorliegen, handelt es sich um das einzige authentische Zeugnis aus der Hand
des Dichters.
Eine „schreckliche Handschrift“ hätten sie da entziffern müssen, sagt Erik
Natter bei der Vorstellung der „Notizbücher“ im Berliner Haus der
Demokratie und Menschenrechte, wo passenderweise gerade eine Ausstellung
über Erich Mühsam zu sehen ist. Reichlich 20 Menschen sind an diesem Abend
gekommen, nicht viele, wenn man bedenkt, dass der Anarchismus einmal eine
Massenbewegung in Deutschland gewesen ist.
## Winzige Erinnerungsschnipsel
Und was sagen uns die Notizbücher nun? Die Eintragungen stellen winzige
Erinnerungsschnipsel dar, wohl nur für den eigenen Gebrauch schnell
dahingeschrieben. „Herbert W abgereist“, steht da unter dem 7. Februar
1926. „Lotte bringt neues Kätzchen“, lautet ein Eintrag am 12. März 1927,
„Chl!!“ notiert Mühsam am 17. Dezember 1931 und „Begegnung mit Ernst Jü…
b Rud Schlichter“ am 14. Januar 1930. Der Landauer Initiative ist es
gelungen, einen großen Teil dieser rätselhaften Kürzel zu dechiffrieren.
„Herbert W“, das war Herbert Wehner, der bald darauf zur KPD stiften ging,
in Moskau den Krieg überlebte und später als Zuchtmeister der SPD in Bonn
fungierte. Hinter „Lotte“ verbirgt sich die Schauspielerin und Freundin
Lotte Löbinger. Dass der Stahlhelm-Dichter Ernst Jünger unter Mühsams
Bekanntschaften auftaucht, überrascht. Wer für „Chl“ steht, bleibt ein
Geheimnis. Die Notizen seien auch Mühsams „sexuelles Tagebuch“ gewesen,
sagt Natter dazu, und so sind dort auch die Ehekrisen mit Zenzl
verzeichnet.
## Flirt mit der KPD
Die Notizbücher umfassen mehr als eintausend Namenseinträge, darunter
manche Unbekannte, aber auch viele Berühmtheiten von Lion Feuchtwanger über
Thomas Mann bis zu Oskar Maria Graf. Sie sind zudem eine bedeutende Quelle
für die politische Orientierung Mühsams in den 1920er und 1930er Jahren.
Der Dichter war erst Ende 1924 nach fünfjähriger Haft wegen angeblichen
Hochverrats freigekommen. Die KPD organisierte für Mühsam bei seiner
Ankunft in Berlin eine große Willkommenskundgebung, verbunden mit der
Forderung nach der Freilassung aller politischen Gefangenen. Danach geriet
Mühsam unter die Fittiche der moskautreuen Kommunisten, sprach auf deren
Kundgebungen und schrieb für deren Blätter.
So kommt es, dass ein gewisser Wilhelm Pieck – später Staatspräsident der
DDR – in den Notizbüchern auftaucht. Mühsams Flirt mit der KPD sorgte bei
den Anarchisten für Ärger, hatte Sowjetrussland doch viele Linksradikale
eingekerkert. Erst später erkannte Mühsam seinen Irrtum und löste sich von
der KP.
## Nicht alle Einträge bedürfen einer Erklärung
Weil allerdings bei der Veröffentlichung der Landauer Initiative nähere
Erklärungen zu den vielen entschlüsselten Personennamen und Organisationen
fehlen, die Mühsam in seine Notizen streut, ist eine erbauliche Lektüre mit
einigem Nachschlagen verbunden – ein gut sortierter Bücherschrank zur
deutschen Arbeiterbewegung ist da sehr nützlich, steht aber längst nicht
jedem zur Verfügung. Wenigstens einen Personenindex hätten die Herausgeber
spendieren können!
Nicht alle Einträge bedürfen einer Erklärung. „Reisevorbereitungen. Brand
des Reichstags“, steht da unter dem 27. Februar 1933, und „Verhaftung.
Polizeipräsidium. Gefängnis an der Lehrter Str.“ am Folgetag. Der letzte
Eintrag datiert vom 7. September 1933. Am 10. Juli 1934 wurde Erich Mühsam
im KZ Oranienburg ermordet.
12 Jun 2023
## LINKS
[1] /Erich-Muehsams-Tagebuecher/!5611820
[2] /Gedenken/!5474243
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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