Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Erinnern an Erich Mühsam: Anarchie am Holstentor
> Der Kunsthistoriker Pascal Simm sorgt für Begegnungen mit Lübecks
> verfemtesten Sohn: Ein interaktiver City-Rundgang erinnert an Erich
> Mühsam.
Bild: Anarchische Streetart und Smartphones sorgen in Lübecks City für Begegn…
LÜBECK taz | Was oder wen sich eine Stadt auf ihre zentralen Plätze stellt,
nach wem sie ihre Straßen und Plätze benennt, an wen und woran sie so oder
anders erinnert, ist Ausdruck politischer Machtverhältnisse und damit
entsprechenden Konjunkturen unterworfen.
So verschwanden die Lenin-Skulpturen dieser Welt in den einstmals
sozialistischen Ländern vor rund 30 Jahren fast so schnell wie die Filialen
westlicher Unternehmen dort den Betrieb aufgenommen hatten. Während in
jüngerer Zeit in diesem Sinne vor allem Standbilder, Straßennamen und
andere Erinnerungen an den Kolonialismus ins Gerede kamen.
Wenn diesen Herbst noch bis Ende November das Projekt „Freigeist Mühsam“ in
Lübeck an Wänden, in Schaufenstern und vielen anderen Ecken der Stadt an
den Schriftsteller, Publizisten, Kabarettisten und Politiker Erich Mühsam
erinnert, ist das daher eine charmant subversive Intervention: Mühsam,
geboren am 6. April 1878 in Berlin und aufgewachsen in Lübeck, eignet sich
nämlich [1][nicht zum Posterboy für ein Staatswesen], egal welcher Art.
Mit Büchern wie „Die Homosexualität“ (1903) und dem Theaterstück „Die
Freivermählten“ (1909) stand Mühsam schon im Kaiserreich que(e)r zum
Mainstream, kämpfte während des Ersten Weltkriegs für den Frieden, wofür er
in den Knast musste, und war nach dem Krieg in Bayern an der Ausrufung und
Errichtung einer anarchistischen Räterepublik beteiligt.
## Verraten von Sozialdemokraten
Als diese auf Geheiß des Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD)
zusammengeschossen worden war, hielt Mühsam – auch nach mehrjähriger
Festungshaft – an der Idee einer Gesellschaft ohne Herrschaft fest. Als
Jude, „Novemberverbrecher“ und kommunistischer Anarchist stand er bei den
Nationalsozialisten ganz oben auf der Liste derer, denen es an den Kragen
gehen sollte. Wenige Stunden nach dem Reichstagsbrand wurde Mühsam am 28.
Februar 1933 verhaftet. Am 10. Juli 1934 brachten ihn SS-Leute [2][im KZ
Oranienburg] um.
Dass Mühsams Heimatstadt Lübeck lieber mit Namen wie Thomas und Heinrich
Mann, Willy Brandt oder Günter Grass wirbt als mit Erich Mühsam, hat wohl
nicht allein mit literarischer Qualität oder politischer Relevanz zu tun.
Eine Figur wie er passt nicht gut zu dem, worauf sich Westdeutschland nach
dem Krieg verständigt hatte – was ihn für die 1968er interessant machte. In
der DDR lag der Fall ein bisschen anders. Dort wurden seine Werke früher
neu aufgelegt, [3][Straßen nach ihm benannt].
Seit gut zehn Jahren ist nun eine kleine Mühsam-Renaissance zu verzeichnen,
nicht zuletzt dank dem Berliner Verbrecher-Verlag, der eine vielbeachtete
Edition der Tagebücher Mühsams auf den Markt brachte. Die machten auch den
Lübecker Kunsthistoriker Pascal Simm auf Mühsam aufmerksam und nahmen ihn
für sich ein. Mit dem Projekt „Freigeist Mühsam“ wollte er den Autor und
Aktivisten „in seiner Vielseitigkeit und Komplexität“ würdigen, also eben
nicht nur als Galionsfigur versprengter Linker.
Zusammen mit Maria Rittwagen und Adeline Henzschel, wie er
Kunstwissenschaftlerinnen, und unterstützt von der Initiative „KulturFunke“
sowie der Lübecker Erich-Mühsam-Gesellschaft, die sich bereits seit 1989
für dessen Andenken stark macht, hat Simm einen interaktiven Stadtrundgang
konzipiert: Mit dem Smartphone in der Hand geht’s durch Lübecks Altstadt,
an knapp 20 Stationen werden verschiedene Lebensphasen und Aspekte des
Schaffens Mühsams angerissen.
## Erfreulich weiter Blick
Dabei ergibt sich ein erfreulich weiter Blick auf dessen Spuren, von den
Punkrock-Vertonungen durch die Hamburger Punkrock-Band Slime über die
Rezeption in bildenden Künsten und Literatur. Wobei an dieser Stelle eine
Lücke klafft, die Simm und seinem Team nicht anzulasten ist: Wurden in der
Weimarer Republik Mühsams Theaterstücke wie „Judas“ und „Staatsräson: …
Denkmal für Sacco und Vanzetti“ mit Erfolg aufgeführt, ist von dem Autor
auf den Spielplänen der Theater heutzutage weit und breit nichts zu sehen.
Ein weiterer wichtiger Strang des Rundgangs sind Mühsams Zeitgenossinnen
und -genossen: Ernst Toller, Else Lasker-Schüler, Emmy Hennings, Joachim
Ringelnatz, Franziska Gräfin zu Reventlow und weiteren Persönlichkeiten
sind Stationen gewidmet, an denen sich, wie an den übrigen Punkten des
Rundgangs, über QR-Codes Hörstücke abrufen lassen.
Eine „Ausreißerin“ ist in dieser Riege die jüdische Dichterin Selma
Meerbaum-Eisinger – als einzige der hier Vertretenen war sie keine
persönliche Bekannte Mühsams, wurde aber wie er früh Opfer des deutschen
Faschismus. Zwingend ist ihre Präsenz gewiss nicht. Aber sie passt doch –
denn Meerbaum-Eisinger steht wie Mühsam für eine vom Nationalsozialismus
vernichtete Kultur, die jüdisch, utopisch, radikal, subversiv und
idealistisch war. Damit erweitert „Freigeist Mühsam“ auch das Bild einer
geistesgeschichtlichen Epoche und macht neugierig darauf, ihn und sein
Umfeld zu erkunden.
6 Nov 2021
## LINKS
[1] https://de.wikisource.org/wiki/Die_Befreiung_der_Gesellschaft_vom_Staat
[2] https://www.sachsenhausen-sbg.de/geschichte/1933-1934-konzentrationslager-o…
[3] https://onlinestreet.de/strassen/Erich-M%C3%BChsam-Stra%C3%9Fe.Rostock.6139…
## AUTOREN
Andreas Schnell
## TAGS
Schwerpunkt Verbrecher Verlag
Anarchie
Lübeck
Anarchie
Hamburg
Novemberrevolution 1918
Novemberrevolution 1918
## ARTIKEL ZUM THEMA
Notizbücher Erich Mühsams von 1926–1933: Mühsams entzifferte Notizen
Die Notizbücher Erich Mühsams von 1926–1933 liegen jetzt vor. Sie zeigen
die politische Arbeit des Dichters und Anarchisten nach der Haftentlassung.
Forschung zur Geschichte der Hanse: Die Privilegien der Händler
Die Lübecker Forschungsstelle für die Geschichte der Hanse und des
Ostseeraums ergründet, wie die Städte damals einen Konsens herstellten.
Gesicht der Novemberrevolution: Hamburgs „roter Diktator“
Als vor 100 Jahren in Hamburg die Revolution ausbrach, setzte sich Heinrich
Laufenberg an deren Spitze. Sein Stern sank in kurzer Zeit.
November-Revolution 1918: Sieg oder Niederlage?
1918 wurden in Braunschweig und Bremen Räterepubliken ausgerufen. Ihr
Scheitern zeigt, was in Weimar schief lief
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.